sein, um die es bei den Versuchen an den Probanden ging. Möglicherweise erforschte man die Auswirkungen des Stickstoffs auf Körper und Geist, die Folgen des Sättigungstauchens. Die meeresbiologischen Arbeiten hier unten stellten entweder reinen Zeitvertreib oder aber die Erfüllung diverser Aufträge aus gänzlich anderen wissenschaftlichen Bereichen dar. Vielleicht finanzierte man damit das Ganze auch nur.
Aber er würde den Zweck des Ganzen ohnehin nicht ergründen, mit seinen Fragen drehte er sich nur im Kreis. Er sollte es gut sein lassen und einfach seinen Job machen, das Geld absahnen, und gut war.
Joachim Seidel wollte die Zeit am Riff nun in vollen Zügen genießen. Früh genug musste er wieder zurück ins Habitat – sein Gefängnis – besser konzentrierte er sich nun auf die Zeit hier draußen. Nach ein paar Minuten jedoch schweiften seine Gedanken erneut ab. Er fragte sich, ob die anderen Probanden an ihrem Platz ähnliche Aufgaben erfüllten wie er oder ob sie etwas anderes taten. Eine der Regeln war, nur den eigenen Arbeitsplatz unter Wasser aufzusuchen, diesen auf direktem Weg vom Habitat aus anzutauchen und nach Erledigung der Aufgaben auf direktem Weg dorthin zurückzukehren. Nur in Notfällen durfte die Tauchstelle anderer Taucher aufgesucht werden.
Seidel wurde unruhig. Er wollte zu gerne wissen, ob sie alle auch während der Tauchgänge dasselbe tun mussten wie innerhalb der Station. Er nahm an, dass es so war. Im Habitat hatten alle Probanden dieselben Möglichkeiten zum Zeitvertreib, nahmen zumindest augenscheinlich dieselben Pillen und konnten auf dieselben Filme und Spiele zugreifen. Sie tranken und aßen sogar fast dasselbe, was die vielen Fragebögen zu Allergien und Unverträglichkeiten erklärte.
Seidels Neugier siegte. Zeit war genug, er würde so oder so bald zur Unterwasser-Füllstation tauchen, um den Atemgasvorrat zu erneuern. Genauso gut konnte er das gleich jetzt machen und dann beim Lostauchen versehentlich die falsche Richtung einschlagen. Was sollte diese Geheimniskrämerei?! Er zeigte seinem Tauchpartner an, dass er zu einer anderen Stelle tauchen würde. Tatzers Protest lief ins Leere. Kaum hatte sich Seidel in Bewegung gesetzt, musste Tatzer widerwillig folgen. Keinesfalls durfte man in ihrer Situation allein tauchen. Ein Ausfall des Atemreglers oder ein anderes gravierendes Problem, und für den Betroffenen würde es übel ausgehen. Das Habitat war fast zweihundert Meter entfernt, und ein Notaufstieg wäre keine Option, da der im Körpergewebe gelöste Stickstoff unkontrolliert ausperlen würde.
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Dennoch finden wir diese - mehr oder weniger - eingeschränkte Spiegelneuronen-Aktivität wahrscheinlich ständig um uns herum. Immer wieder hallte dieser Satz in Nataschas Kopf nach. Sollte sie die Reportage verstärkt von der wissenschaftlichen Seite aufziehen? Es wäre ein interessanter Ansatz. Zu fachlich durfte sie das Thema aber auch nicht aufbereiten – zumal sie selbst daran zweifelte, dass die gesellschaftlichen Veränderungen einzig durch biochemische Veränderungen im Gehirn zu erklären waren. Und selbst wenn – wo blieb eine Erklärung dafür, dass das Sozialverhalten der Menschen gerade so extrem abkühlte? Der verstärkte Medienkonsum konnte als Erklärung allein nicht herhalten. Sicher spielten viele Faktoren zusammen, diese zu betrachten und zu analysieren, würde eine gute Grundlage für die Artikel-Serie bilden. Sie war auf dem richtigen Weg, das spürte sie. Sie wusste aber, sie musste ihre Fühler auch in andere Richtungen ausstrecken. Vielleicht sollte sie das Thema sogar ausweiten? Von Verrohung hin zu Gewaltbereitschaft ließ sich möglicherweise eine Brücke schlagen. Irgendwie hing das alles zusammen. Biochemisch betrachtet war es vom Verlust der Empathie-Fähigkeit zur Gewaltbereitschaft offensichtlich nur ein schmaler Grat, ja: das eine war zwangsläufig eine Folge des anderen. Diesem Ansatz nachzugehen, würde sich lohnen.
Sie war gespannt, was der heutige Tag bringen würde. Zwei Stunden noch, dann würde sie mit einer renommierten Kollegin Stenzels zusammensitzen und hören, was sie zum Thema zu sagen hatte. Nataschas Erkundigungen nach zu urteilen, warf Dr. Paula Dannowitz Thesen in den Raum, die in Fachkreisen nicht selten kontrovers diskutiert wurden. Vielleicht brachte sie neue Impulse für die Reportage. Die nächsten beiden Fachleute, die Natascha interviewen wollte, lebten und praktizierten nicht in München, sondern in Hamburg und Köln. Natascha würde ihre Mitarbeiter auf sie ansetzen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie Lea lassen sollte, wenn sie die beiden Interviews selbst durchführen würde.
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Etwas über eine halbe Stunde später näherten sich Seidel und Tatzer dem Abschnitt, in dem seine lethargischen Kollegen eingeteilt waren. Wenn die bei allem so emotionslos waren wie in der Station, dann pennten die beiden wahrscheinlich auch unter Wasser.
Ein paar Meter vor sich erblickte Seidel dieselben Behälter, Laborutensilien und Messgeräte, die auch er und Tatzer am Riff bei sich hatten. Einige Labor-Röhrchen und Behälter waren bereits mit Proben und Entnahmen gefüllt. Ganz klar, die Jungs hatten denselben Arbeitsauftrag. Schön, dass diese Vollpfosten zumindest damit ein gutes Werk taten – sie halfen dabei, mehr herauszufinden über die Flora und Fauna am Riff oder um was auch immer es hier gehen mochte…
Seidel schaute sich um. Keine Spur von den Typen. Tatzer hörte nicht auf zu nerven. Ständig drängte er Seidel, in ihren Quadranten-Abschnitt zurückzukehren. Wieder einmal schoss Seidel der Gedanke durch den Kopf, dass er lieber allein unterwegs wäre, Solo-Tauchgänge entsprachen seinem Naturell viel mehr. Er war eher ein Einzelgänger, nur zu gerne hätte er auch hier sein eigenes Ding durchgezogen. Eigentlich würde das auch mehr ins Bild passen, denn sie sollten doch ihren Vorlieben nachgeben. Warum dann beim Tauchen an konservativen Sicherheitskonzepten festhalten?! Es war nicht schlüssig. Aber was war hier schon schlüssig?!
Seidel entschloss sich, den großen Felsen zu umrunden, auf dem das Leben blühte wie selten im Mittelmeer. Er zeigte Tatzer sein Vorhaben an. Der zögerte wieder, folgte dann aber doch, blieb jedoch in einigen Metern Abstand zu Seidel, aus welchem Grund auch immer. Seidel aber war das recht. Besser, als sich ständig auf der Pelle zu hocken.
Nach einigen Metern entdeckte Seidel unter sich auf sandigem Grund eine große Tasche von der Sorte, in die man Tauchausrüstungen packte. Sie war offen. Seidel spähte hinein. Einige Bleistücke waren darin, wohl um die Tasche an ihrem Platz zu halten. Erst auf den zweiten Blick erkannte Seidel, was sich noch darin befand. Sofort war ihm klar, dass die Bleistücke nicht der Standortsicherung dienten, sondern ihren Zweck erfüllt hatten, der darin bestand, die Tasche an dieser Stelle des Meeres zu versenken, was wohl niemand hatte mitbekommen sollen, am wenigsten er.
Sein Atem stockte. Was zum Henker?! Dann löste er sich aus der Sekundenstarre. Ohne Tatzer auch nur ein Zeichen zu geben, trat er mit aller Kraft in die Flossen und schwamm so schnell er konnte vorwärts.
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Dr. Dannowitz war eine Frau, die das gewisse Etwas ausstrahlte, das andere Menschen und insbesondere Männer unweigerlich in ihren Bann zog – das zumindest hatte Nataschas Redakteur Kessler gesagt, der sie auf einer Konferenz persönlich kennengelernt hatte. Natascha konnte ihrem Kollegen nur zustimmen, die Frau, die nun auf sie zuschwebte wie ein vollkommenes Geschöpf auf dem Catwalk, schaffte es, dass selbst Nataschas Blicke eine Sekunde länger als gewöhnlich an ihr hafteten. Die Bilder auf Wikipedia und den wissenschaftlichen Internetseiten hatten nicht annähernd ihre Schönheit zur Geltung gebracht, das stellte Natascha neidlos fest. Rotbraun schimmerndes, leicht gewelltes Haar, das füllig bis über die Schultern fiel, ein makellos schönes Gesicht, feine und perfekt proportionierte Züge, ihr Make-up, ihr Style, ihre Figur, ihr eleganter Gang, ihre Kleidung – einfach alles war unwirklich schön und anmutig. Aristokratisch und doch natürlich schritt sie auf Natascha zu. Wie eine hochrangige Elfe aus einer anderen Welt, verletzlich und zugleich unglaublich stark. Und dann diese im Kontrast zu Haarfarbe und Teint tiefblauen Augen! So tief, dass man sich, sobald man hineinblickte, in ihnen verlor. Die Frau hatte eine enorme Sogwirkung. Als sie nun vor Natascha stehen blieb, sah sie aus, als hätte sie sich soeben direkt von einem Pariser Laufsteg hierher gebeamt, ohne dabei dem leisesten Lüftchen ausgesetzt gewesen zu sein oder stundenlang in einem Autositz zugebracht zu haben – was den knitterfreien Stoff ihres figurbetonten Hosenanzugs und den perfekten Sitz ihrer Frisur erklärte. Selten hatte Natascha eine derart schöne Frau getroffen, und es würde sie nicht wundern, wenn die Männer dieser Elfe bedingungslos in ihre Anderswelt folgen würden. Es war eine gute Entscheidung gewesen, nicht einen ihrer männlichen Kollegen vorbeizuschicken – die hätten sich wahrscheinlich nicht