des Einzelnen und in Folge der gesamten Gesellschaft einer großen Umwälzung unterworfen sind – zumindest gewinnt man den Eindruck, wenn man gut beobachtet. Dazu braucht man kein Psychologe zu sein. Wenn man Gründe dafür sucht, kann man auch Antworten finden, dann ist es immerhin ein erklärbares Phänomen.«
Stenzel stand plötzlich auf. Er ging zum Fenster und blieb einen Moment nachdenklich davor stehen. Dann drehte er sich zu Natascha um. »Entscheidend für die Ausbildung der Spiegelneuronen-Aktivität sind die emotional prägenden Erfahrungen der frühen Kindheit. Nicht nur, aber sie fallen besonders ins Gewicht. Die durch die Spiegelneuronen ausgelöste emotionale Resonanz greift immer auf eigene Erfahrungen zurück, je prägender diese sind, desto stärker spielen sie eine Rolle. Wird die Entwicklung der Spiegelneuronen unterdrückt oder durch sehr häufige, sich ständig wiederholende negative Emotionen abgestumpft, dann kann die Fähigkeit zur Empathie gegen Null tendieren, irgendwann, das ist ein schleichender Prozess. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Das Gehirn Erwachsener ist diesen Einflüssen ebenso unterworfen. Nur, je jünger das Gehirn, desto stärker die Wirkung negativer Einflüsse. So einfach ist es natürlich nicht. Es gibt sehr wohl Einflüsse, die dem Gehirn eines Erwachsenen fast ebenso zusetzen. Grundsätzlich gilt aber: Kinder sind die Gesellschaft von morgen.«
»Verstehe. Klingt plausibel. Nicht wirklich neu. Ich nehme an, Sie wollen auf etwas ganz Bestimmtes heraus?« Natascha nippte an ihrem Espresso.
Stenzel nickte fast unmerklich. »Wenn wir vom Schmerz eines anderen erzählt bekommen, aber nicht direkt mitfühlen, dann handelt es sich um eine kognitive Perspektivenübernahme. Es kommt einem mitfühlenden Denken gleich. Im Fall der sogenannten affektiven Empathie handelt es sich dagegen um eine spürbare emotionale Resonanz. Wir fühlen dann aktiv mit. In unserem Gehirn werden dabei genau jene neuronalen Netzwerke aktiv, die auch den eigenen Gefühlen zugrunde liegen. Mit Hirnscans kann man körperliche Reaktionen der mitempfindenden Person nachweisen und ihre Empathie de facto messen.« Stenzels Ausflug zum Fenster war kurz. Er nahm wieder Platz. »Die Veranlagungen zu mehr oder weniger Empathie sind individuell ausgeprägt. Vor allem aber verändern sie sich im Laufe des Lebens sehr individuell. Die Aktivität der Spiegelneuronen nimmt entweder zu oder ab. Ganz nach dem Leitsatz Use it – or lose it. Die Frage, die mich als Forscher umtreibt, ist folgende: Was verursacht eine derart negative Entwicklung solcher Prozesse, dass wir von einem ›Phänomen‹ sprechen können?«
In seiner Frage lag eine Schärfe, die sie verwirrte. Als wäre sie in einer Diplom-Prüfung. Sie blickte den Professor erwartungsvoll an. Bisher hatte er ihr nicht wirklich Neues erzählt. Ein paar Details, ja, aber sie brauchte neue Ansätze, auf denen sie ihre Reportage weiter aufbauen konnte. Es mussten ja keine revolutionären Neuigkeiten sein. Aber zumindest Erkenntnisse, die Leser aufhorchen und weiterlesen lassen würden.
»Nun, Frau da Silva, da gehen unter uns Fachleuten die Meinungen natürlich auch auseinander. Und es gibt ja nicht nur den einen Grund, warum unsere Gesellschaft kühler würde. Der zunehmende Stress des Einzelnen, vor allem auch beruflich, der ständig steigende Erfolgsdruck, das immer schwieriger werdende Zeitmanagement. Streben nach mehr – nicht nur materiell, sondern auch im Sinne der Selbstverwirklichung, die uns Menschen immer wichtiger wird – was ja nicht per se schlecht ist, und viele Faktoren mehr. Belastung, Überarbeitung, ausgelaugt sein, ausgebrannt sein. Der Wegfall der Großfamilien, der sozialen Gemeinschaft, des Auffangnetzes nämlich, um die Fülle an Alltagsaufgaben besser zu bewältigen, was ja dem am Limit laufenden Einzelnen auch Entlastung bringen würde. Und dann die ständige Reiz- und Informationsüberflutung unserer heutigen Zeit – sowohl privat, als auch beruflich. Und vieles mehr! Die Frage ist doch, was wirkt heutzutage besonders stark auf die Gefühlswelt der Menschen? Was hat die Kraft, ja geradezu die Macht, derart auf unser Hirn einzuwirken, dass wir oberflächlicher, empathieloser, rücksichtsloser, ichsüchtiger oder kaltherziger werden? Abgesehen von unserer genetischen Veranlagung und den ohnehin allgemein angenommenen äußeren Einflüssen ist es relevant, ob wir geborgen oder verwahrlost, behütet oder alleingelassen, gut situiert oder in prekären Verhältnissen aufwachsen und uns später darin weiterbewegen oder nicht. Das alles spielt eine Rolle, war aber schon immer so. Was aber hat erst in den letzten Jahren derart an Bedeutung gewonnen? Was war zwar schon vorher da, aber nicht so?« Wieder dieser Blick, als erwarte er von ihr eine Antwort.
»Ich bin gespannt.« Natascha beugte sich auf ihrem Stuhl vor.
»Nun, das, was ich persönlich als einen der Hauptgründe sehe, ist auch nicht wirklich neu und wird schon lange diskutiert. Aber meiner Meinung nach schenkt man diesem Hauptgrund nicht die Aufmerksamkeit, die wir ihm als moderne Gesellschaft mit offensichtlichen Problemen zugestehen müssten.
»Und der wäre?« Natascha sah Stenzel neugierig an.
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Hamburg
»Wir haben Anweisung, in dieser Staffel doch noch einige Parameter zu verändern. Nicht alle, keine Sorge. Kommt auf die Gruppe an. Wirf mal ‘nen Blick drauf!« Thomas Muhr streckte seinem Kollegen Sawaan die schwarze Mappe entgegen.
Keine fünfzehn Minuten war es her, dass er sie mit einem etwas mulmigen Gefühl vom CEO der Filmproduktionsfirma, für die er tätig war, erhalten hatte. So ganz wohl fühlte er sich nicht bei der Sache. Irgendwie entwickelten einige Serien-Figuren in den letzten Wochen eine ungewöhnlich starke Eigendynamik. Inzwischen diskutierten sogar manche Darsteller in den Pausen am Set über den ungewöhnlichen Verlauf des Drehbuchs, darüber, wie extrem sich einige Serienfiguren verändert hatten – und wie rasant. Das war den Schauspielern ein Rätsel.
Dass das Drehbuch aus vielen Sub-Drehbüchern bestand und diese wiederum aus den Plot-Vorschlägen unterschiedlicher Fan-Gruppen, deren Mitglieder sich bestimmten Filmhelden der Serie fest zuordneten und virtuell in ihre Rollen schlüpften, wussten natürlich alle. Das neuartige Erfolgskonzept ihres Quotenrenners kannte jeder, der sich mit Filmen und Serien auch nur ein bisschen auskannte. Was genau allerdings die unterschiedlichen Streaming-Zuschauer der Serie voneinander unterschied, das wussten weder die Millionen von Mitgliedern, die mit Leidenschaft am Drehbuch mitschrieben, noch die Darsteller, die in ihrer Freizeit auch Zuschauer der Serie waren und sich – das war das Kuriose daran – selbst in einer Zuschauergruppe am Drehbuch beteiligten. Über neunzig Prozent der Zuschauer waren Mitglied der Drehbuch-Community – rein statistisch gesehen also auch neun von zehn Darstellern, zumindest, wenn sie von der Serie begeistert waren – und das war bei fast jedem der Fall. Wer war nicht fasziniert vom Format Ashes Real mit seinen genreübergreifenden Storys, der Action, dem Drama, dem Moralingesättigten, dem Mysteriösen und den preisgekrönten Kostümen, die über die Laufstege und Boutiquen nun auch das Straßenbild erobert hatten?! Seit fast zwei Jahren brach die Serie alle Rekorde. Wer vorher noch nicht gestreamt hatte, tat es spätestens, seit Ashes Real an den Start gegangen war. Kaum jemand konnte sich der Faszination der Serie entziehen, nur jene, die sich dem Medienkonsum grundsätzlich verweigerten oder nur ausgesprochen wenig fernsahen. Die Konsumenten des Streaming-Formats waren wie in einem Sog.
Der Erfolg der Serie, der Erfolg der zwei anderen Formate des Hauses sowie das ganze Merchandising hatten die Produktionsgesellschaft Pink Rock geradewegs in die Liste der hundert stärksten Unternehmen Deutschlands geführt. Nicht mehr lange, und das Unternehmen würde eines der einflussreichsten Unternehmen in Deutschland sein. Um das zu prognostizieren, musste man wahrlich kein Wirtschaftsexperte sein. Binnen kürzester Zeit hatte sich Muhrs Arbeitgeber zu einem Giganten entwickelt, der inzwischen mit dem Merchandising mehr verdiente als mit der Ausstrahlung der Serien über Streaming-Abos.
Doch seit Kurzem verliefen die Dinge eigenartig. Einzelne Gruppen und die ihnen zugeordneten Seriencharaktere schienen völlig von der Rolle, was der Redensart »von der Rolle« auf ironische Art gerecht wurde. Und statt erst einmal abzuwarten, wie sich die Dinge weiterentwickelten, gingen der Firmenvorstand und die verantwortlichen Produzenten schon den nächsten Schritt – nein, sprangen regelrecht einen Satz nach vorne. Die Auswirkungen der angedachten Änderungen würden aber nicht unbeträchtlich sein, da war er sich ziemlich sicher. Muhrs Meinung nach sollten sie die restlichen Folgen der Serie erst mal unverändert ausstrahlen, hatten sie sich doch im Vergleich zur letzten Staffel ohnehin ziemlich weit vorgewagt. Sie waren auf medialem Neuland unterwegs, da hieß es: Vorsicht!
Aber