Thomas Röper

SPIEGLEIN politisches Jahrbuch 2020


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      Nun noch etwas zu Unregelmäßigkeiten bei Wahlen. In Russland werden alle gemeldeten Unregelmäßigkeiten veröffentlicht und verfolgt. In allen Wahllokalen besteht Kameraüberwachung, die Bilder werden auch live ins Internet übertragen, jeder kann also jedes Wahllokal beobachten. Darüber hinaus waren über 10.000 Wahlbeobachter im Einsatz – sowohl Bürgerrechtsgruppen als auch Parteien schicken ganze Armeen von Beobachtern los. Hinzu kommen noch Beobachter ausländischer Organisationen wie der OSZE. Es sind jedoch keine nennenswerten Unregelmäßigkeiten bekannt geworden, obwohl kurz nach der Wahl 3.654 Beschwerden dazu eingegangen sind und elf Strafverfahren eröffnet wurden. Jedoch hatten diese keinen Einfluss auf die Wahlergebnisse.

      2018 war das anders. Da hatte, nachdem es zu Unregelmäßigkeiten gekommen war, die Chefin der Wahlkommission, Ella Pamfilowa, die Wahlsiege von Kandidaten der Regierungspartei annulliert und neu wählen lassen.

      Bleibt noch die Wahlbeteiligung. Die ist in Russland bei solchen Wahlen generell niedrig und schwankt auch sehr stark. In einigen Regionen lag sie bei kaum über 20 Prozent, in anderen war sie jedoch weit höher. Russlandweit lag sie bei etwas über 41 Prozent, was im Vergleich zum letzten Jahr ein Anstieg um 3,5 Prozent ist. Diese großen Unterschiede sind auch darin begründet, dass die Wahlbeteiligung bei Wahlen von Gouverneuren höher ist als zum Beispiel bei Stadtparlamenten. In Moskau, das angeblich so heftig protestiert hatte, lag die Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Stadtparlament bei nur 21,77 Prozent.

      Und von den tausenden Demonstranten, die nach Angaben der deutschen Medien verhaftet worden sind, wurde nur gegen weniger als 20 Anklage erhoben, weil ihnen Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt oder andere Straftaten zur Last gelegt wurden, die auch in Deutschland strafbar sind.

      Für die meisten anderen war die Sache nach der Zahlung eines Bußgeldes erledigt.

      19 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-in-sachsen-mit-nur-noch-18-listenplaetzen-was-bedeutet-das-a-1276019.html

      20 https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-wie-bei-der-wahl-in-moskau-gegen-oppositionelle-vorgegangen-wird-a-1277466.html

      21 https://ovdinfo.org/about/our-partners

      22 https://www.anti-spiegel.ru/2019/wie-das-russische-fernsehen-ueber-die-proteste-in-moskau-berichtet/

      23 https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-opposition-spaziert-in-moskau-gegen-die-regierung-a-1280350.html

      24 https://tass.ru/obschestvo/6730371

      25 https://www.mdr.de/thueringen/wahlen-politik/parteien-zur-landtagswahl-100.html

      Deutschland

      In diesem Kapitel geht es nicht um eine Chronologie der politischen Ereignisse in Deutschland 2018, sondern hier will ich einige Informationen zusammenfassen, die ich 2018 für bedeutend hielt. Es geht um Studien, Umfragen und Gerichtsurteile, die 2018 wichtig waren, von den Medien jedoch nur am Rande oder gar nicht behandelt wurden.

      Da es sich um keine Chronologie handelt, habe ich für die verschiedenen Themen eigene Kapitel gesetzt.

      Faktencheck: Überholt Russland Deutschland als fünftgrößte Volkswirtschaft?

      Im Januar 2018 fand ich einen Artikel, der diese Frage stellte, und da wurde ich skeptisch, denn schließlich gilt Russlands Wirtschaft nicht eben als solide und mächtig. Darin habe ich mich getäuscht, wie meine Recherche dann ergeben hat.

      Die Schwierigkeit dabei ist, dass man das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nach sehr unterschiedlichen Methoden messen kann, ironisch gesagt nach dem Motto „Glaube nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast“. Die Frage ist immer, was man eigentlich messen bzw. überprüfen will. Daher müssen wir uns vor dem eigentlichen Faktencheck ein wenig trockene Theorie ansehen.

      Es gibt das nominale und das reale BIP. Beim nominalen BIP geht es um den Wert aller Waren und Dienstleistungen berechnet in Marktpreisen. Das bedeutet, dass steigende (Markt-)Preise, also Inflation, das BIP erhöhen. So kann selbst bei sinkender Produktion das nominale BIP steigen, wenn nur die Inflation hoch genug ist.

      Um diesen Effekt, der ja sehr falsche Ergebnisse liefern kann, auszuschließen, gibt es das reale BIP. Dabei wird durch die Festsetzung von Basispreisen die Inflation herausgenommen, man bekommt also einen klaren Einblick in die Entwicklung der Produktion und Dienstleistungen.

      Nun ist aber auch hier die Schwierigkeit offensichtlich, wenn man verschiedene Länder mit verschiedenen Währungen vergleichen will. Schließlich legen die Länder unterschiedliche Basispreise fest, und das auch noch in unterschiedlichen Währungen, die im Laufe des Berechnungszeitraums auch noch ihre Wechselkurse verändern.

      Um auch diesen Effekt auszugleichen, gibt es noch die Messung des BIP nach Kaufkraftparität (KKP oder Englisch PPP). Der Punkt ist nämlich, dass ein und dasselbe Produkt in verschiedenen Ländern teurer oder billiger sein kann, und das gilt auch für die Löhne. In der Schweiz sind die Löhne höher als in Deutschland, aber wer einmal dort war, weiß, dass dort dafür auch alles viel teurer ist. Von ihren höheren Löhnen haben die Schweizer nur dann einen Vorteil, wenn sie ins Ausland zum Einkaufen oder in den Urlaub fahren – im Alltag zu Hause heben die höheren Preise die höheren Löhne fast auf.

      Das BIP kann also auf sehr unterschiedliche Weise gemessen werden, und das kann auch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Richtig oder falsch ist keine Methode. Wer zum Beispiel die Entwicklung in einem Land über die Jahre messen will, ist mit dem realen BIP gut bedient. Wenn man aber verschiedene Länder vergleichen will, hat das reale BIP seine Schwächen und das BIP nach KKP ist aussagekräftiger. Nur weil eine Tasse Kaffee in der Schweiz das Doppelte kostet wie in Deutschland, ist es trotzdem noch die gleiche Tasse Kaffee. Wer also das BIP, sprich die Summe der produzierten Güter und Dienstleistungen (vereinfacht gesagt, die Anzahl an verkauften Tassen Kaffee), in verschiedenen Ländern vergleichen will und nicht die Preisunterschiede, der muss nach KKP gehen.

      Ich will jetzt keine volkswirtschaftliche Abhandlung schreiben, aber ich musste die kurze Erklärung vorschicken, damit verständlich wird, warum Russland Deutschland tatsächlich demnächst überholen und auf Platz fünf der größten Volkswirtschaften der Welt aufsteigen könnte.

      Wenn man das nominale BIP nimmt, steht Deutschland 2017 in der Welt auf Platz 5 mit 3.684 Milliarden Dollar und einem Wirtschaftswachstum von 5 %. Daran sieht man die oben genannten Schwächen des nominalen BIP, denn wir alle wissen, dass die deutsche Wirtschaft nicht um 5 % pro Jahr wächst. Russland steht demnach auf Platz 12 mit 1.527 Milliarden und einem Wachstum von 12 %, was ebenfalls jenseits der Realität ist.

      Wenn man das BIP aber nach KKP berechnet, steht Deutschland mit 4.170 Milliarden auf Platz 5 und Russland auf Platz 6 mit 4.007 Milliarden, wie man auf dem Screenshot aus dem entsprechenden Wikipedia-Artikel sieht.