Achim Bühl

Antisemitismus


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bis hin zu Pogromen sowie den Völkermord umfasst, so beinhalten die Schriften und Hasspredigten Martin Luthers eine Vielzahl judenfeindlicher Bemerkungen, die von „den Juden“ als Christusmördern bis hin zu „den Juden“ als einer verschworenen Gemeinschaft reichen, die durch alles erdenklich Böse wie Wucher sowie Giftmischerei den Tod der Christenmenschen wünschten und die Herrschaft in christlichen Ländern an sich reißen wollten. In seinen Schriften propagierte der Reformator einen eschatologisch geprägten Endzeitkampf zwischen „den Juden“ und „den Christen“. Luther malte in seinen Predigten eine alles entscheidende finale Schlacht zwischen den mit dem Antichristen verbündeten Juden und den der Versuchung des Teufels ausgesetzten Christen aus. Angesichts derartiger Hasspredigten, die u. a. Landesfürsten zur Vertreibung der Juden aus ihren Territorien bewegen sollten, sowie programmatischen Aufrufen Luthers, die Synagogen bis auf ihre Grundmauern zu zerstören, die Religionsausübung der Juden zu untersagen, sie zur Arbeitspflicht heranzuziehen sowie jüdische Schriften zu verbrennen, diente der im Lutherjahr betonte Dualismus zwischen „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ als Legitimation, um den Vernichtungswahn des Reformators, der nur noch die reine Körperlichkeit der Juden ausließ, zu verdecken und die Judenfeindschaft Luthers auf diese Weise verharmlosend als eine Art Religionsstreit hinsichtlich der Auslegung der hebräischen Bibel erscheinen zu lassen.

      Die binäre Logik der Termini „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ verkennt, dass derlei ideologische Muster, wie sie bei Luther und anderen christlichen Theologen zu finden sind, eine tiefe Prägung im westlichen Denken hinterließen, es alles andere als eine zufällige Parallele ist, dass in nationalsozialistischen Broschüren, Reden Hitlers wie Goebbels und Rosenbergs, die den europaweiten Völkermord an den Juden vorbereitend oder begleitend legitimierten, von einem Endkampf zwischen der „semitischen“ und der „arischen Rasse“ die Rede ist, vom verschworenen „Weltjudentum“, das alles nur erdenklich Diabolische aushecke, um die Macht in Deutschland und Europa an sich zu reißen. Der eschatologisch geprägte „Rassenkampf“ des dt. Nationalsozialismus knüpfte an antisemitische Muster des Christentums an, die längst vor Hitler zum Mainstream westlichen Denkens zählten. Der konstruierte Dualismus zwischen „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ übersieht den Sachverhalt, dass ganze Nummern des nationalsozialistischen Hetzblattes Der Stürmer die mittelalterliche Ritualmordlegende wieder aufleben ließen, und diverse Publikationen des Stürmer-Verlags die Schuld der Juden an rituellen Morden akribisch nachzuweisen gedachten. Im Mai 1943 griff Der Stürmer ebenso das bei Luther verbreitete Motiv der Juden als „Christenmörder“ auf. Die Sondernummer trug den Titel Jüdischer Mordplan gegen die nichtjüdische Menschheit aufgedeckt und bezeichnete die Juden als »Mördervolk«.

      Der im Folgenden benutzte Antisemitismusbegriff intendiert nicht nur die Dekonstruktion von Legitimationsvarianten wie sie in der Luther-Dekade zutage traten, sondern ebenso eine Sichtbarmachung der im kulturellen Bewusstsein des westlichen Denkens tief verankerten Techniken der Judenfeindschaft als „lange Welle“. Diverse Diskurse wie Narrative entpuppen sich bei näherer Betrachtung als überkommenes historisches Muster, das zwar qualitative Transformationen sowie einen Austausch der Akteure, Motive wie Funktionen erfuhr, jedoch gleichwohl eine additive Wirkung zu entfalten vermochte und ein über Jahrhunderte wirkendes Verstärkungspotential erzeugte, welches in relevantem Maß mit dazu beitrug, dass in Deutschland das Undenkbare geschehen konnte. Den Antisemitismus als lange historische Welle verstehen heißt indes nicht, wie Kritiker unterstellen, der Vorstellung eines teleologischen Geschichtsverständnisses das Wort zu reden, insofern es weder einen geradlinigen noch einen zwangsläufigen Weg von Luthers Hasspredigten zu den Krematorien in Auschwitz gab. Die Betonung einer langen Welle stellt auch noch nicht die Beantwortung der Frage „Warum die Deutschen, warum die Juden?“ dar. Der Wittenberger Reformator trug jedoch zu einem additiven Wirkungspotential bei, welches sich im kollektiven Bewusstsein in einer Weise verankerte, dass dies vom dt. Nationalsozialismus für seine Zwecke reaktiviert und instrumentalisiert werden konnte. Der Nationalsozialismus begriff durchaus die Wirkmächtigkeit des jahrhundertealten antisemitischen Syndroms. Zwar stand im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie wie Gewaltherrschaft ein rassenbiologisch konstruierter Antisemitismus, der die „jüdische Rasse“ als zersetzendes und als ein das dt. Volk und die dt. Nation in ihrem Überlebenskampf bedrohendes Potential konstruierte, gleichwohl benutzten die Nazis alle nur erdenklichen Quellen, Richtungen wie judenfeindlichen Denker, da sie die Wirkung des additiven Amalgams und dessen Potential erkannten.

      Den Vertretern des binären Konzepts („Antijudaismus versus Antisemitismus“) ist vorzuwerfen, dass sie die Existenz dieser langen Welle des Judenhasses sowie seiner kulminierenden Wirkmächtigkeit unterschätzen und epochenübergreifenden Ideologemen wie Narrativen, die sich tief im kollektiven Bewusstsein verankerten, zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Die Befürworter des dualen Konzeptes übersehen darüber hinaus, dass die von ihnen konstruierte Phase des Antijudaismus, die sich ja von der Antike bis zur Mitte des 19. Jh.s erstrecken soll, ihrerseits vielfältigen Wandlungsprozessen unterworfen war. Die jeweiligen Modifikationen gilt es im Sinne der Phaseneinteilung, wie sie von uns vorgenommen wurde, exakter zu erfassen. Auf diese Weise erschließt sich auch der „Fall Beuth“ (vgl. Kap. 4) in seiner ganzen Tragweite, sodass die ideologische wie politische Scharnierfunktion des „Völkischen“ der deutschen Romantik in seiner Relevanz für das Rassenkonstrukt wie den Antisemitismus des Nationalsozialismus erst offenbar wird.

      Im Folgenden gilt es, den Antisemitismus sowohl methodisch zu beschreiben, d. h. die Techniken der Fremdheitsproduktion wie der Gewaltförmigkeit präzise zu erfassen, sowie den Antisemitismus zugleich funktional zu analysieren, d. h. nach den Interessen, Ursachen wie Motiven der Täter zu fragen, ohne dabei die Opfer eines mörderischen Systems aus dem Auge zu verlieren oder ihnen gar unsere Empathie zu versagen.

      1DER ANTISEMITISMUS IN DER ANTIKE

      Die antike Judenfeindschaft umfasst den Zeitraum seit Beginn der Geschichte Israels etwa 1300 v. Chr. bis ca. Ende des 5. Jh.s n. Chr. Herausragende Ereignisse stellen der Aufstand in Elephantine im Jahr 411 v. Chr., die Verfolgungen unter Antiochos IV. um 170 v. Chr., der Pogrom von Alexandrien im Jahr 38 n. Chr., die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die römische Besatzungsmacht im Jahr 70 n. Chr. sowie die endgültige Niederschlagung des Simon-Bar-Kochba Aufstands und die damit einhergehende Vertreibung der Juden aus Jerusalem im Jahr 135 n. Chr. dar. Für die Genese und Entwicklung des Antisemitismus spielt die christliche Judenfeindschaft, die sich bereits in neutestamentarischen Schriften, bei Paulus von Tarsus sowie vor allem bei den frühchristlichen Kirchenvätern im 4. Jh. n. Chr. nachweisen lässt, eine fundamentale Rolle. Frühchristliche Dogmen haben nicht nur in entscheidendem Maß den mittelalterlichen Antisemitismus, sondern auch dessen moderne Variante geprägt. Eine Beschäftigung mit dem antiken Antisemitismus lässt die Wurzeln des sozialen Phänomens erkennen.

       1.1Assyrische Deportation und babylonisches Exil

      Im 9. Jh. v. Chr. gelang es dem Volk der Assyrer, welches im mittleren und nördlichen Mesopotamien lebte, ein Großreich zu etablieren, dessen Zentren die Städte Aššur, Nimrud und Ninive bildeten und welches zeitweise auch Babylon und Ägypten beherrschte. Im Jahr 733 v. Chr. deportierte das Assyrische Reich Tausende Einwohner aus dem Nordreich Israel, im Jahr 722 v. Chr. ebenso aus dem durch die innerjüdische Spaltung hervorgegangenen Staat Samaria. Im Jahr 614 v. Chr. eroberten die Vasallenstaaten Babylon und Medien die assyrische Hochburg Nimrud, im Jahr 612 v. Chr. nach dreimonatiger Belagerung Ninive und drei Jahre später die westlich gelegene Stadt Harran. Mit der Thronübernahme Nebukadnezars II. (640 v. Chr.–562 v. Chr.) im Jahr 605 war die Unterwerfung der einstigen Großmacht besiegelt. Das neubabylonische Reich schickte sich sogleich an, Syrien und die Levante tributpflichtig zu machen. Aufstände in denjenigen Staaten, die sich gegen ihre Unterwerfung zur Wehr setzten, wurden mit Gewalt niedergeschlagen. Im Jahr 597 v. Chr. eroberte Nebukadnezar II. Jerusalem und verbannte den König Jojachin (616 v. Chr.–560 v. Chr.) sowie Tausende Juden ins ferne Babylon. Einen Aufstand des nachfolgenden Königs Zedekia (618 v. Chr.–586 v. Chr.) ließ der babylonische Herrscher ebenso niederschlagen und im Jahr 586 v.