Gert Rothberg

Sophienlust Extra 12 – Familienroman


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So stark war also ihre Abneigung gegen ein kleines Wesen, das sie doch wieder hätte lieben und mit all ihrer Fürsorge umgeben können. Sie wusste, wie sehr er sich nach einem Kind sehnte. Auch wenn Dani ihnen geblieben wäre, hätten sie sich noch Kinder gewünscht.

      Helmut Brugger nahm eine Schlaftablette, füllte ein Glas mit Wasser und ging ins Schlafzimmer zurück. Von dem, was er eben entdeckt hatte, sprach er nicht. Zu gut wusste er, wie sinnlos es war, Ursula Vorhaltungen zu machen.

      *

      Zur selben Zeit lag auch ein anderes Paar wach. In einer Wohnung, die im Vergleich zu dem schönen Haus Dr. Bruggers ein Elendsquartier war. Diese Wohnung lag in einem baufälligen Haus am Stadtrand von Darmstadt. Und das Paar war nicht verheiratet, aber es lebte seit Jahren miteinander wie Mann und Frau.

      Die beiden waren der siebenundzwanzigjährige Heribert Wied und die fünfundzwanzigjährige Gitta Brandt. Zwei Menschen, die eine Hassliebe miteinander verband. Keiner war imstande, sich von dem anderen zu trennen, obwohl die anfängliche Leidenschaft zueinander längst verraucht war.

      Für Heribert Wied gab es noch etwas anderes, was ihn an Gitta band: Sie wusste zu viel von ihm. Sie wusste von all jenen kriminellen Dingen, die er im Laufe der Jahre auf sein Gewissen geladen hatte. Sie reichten vom Ladendiebstahl bis zum bewaffneten Überfall. Dass Heribert Wied dabei noch niemals von der Polizei überführt worden war, hatte er vor allem Gitta zu verdanken. Sie war immer bereit gewesen, ihn zu decken, ihm ein Alibi zu verschaffen und ihn wieder ›herauszuhauen‹, wie er es nannte.

      Dass Gitta mit von seiner jeweiligen Beute lebte, schien ihm Lohn genug für ihre hündische Treue zu sein. Er ging nicht gerade zartfühlend mit ihr um.

      Auch jetzt sagte er grob: »Musst du noch einmal das Licht einschalten, wenn ich schlafen will? Du scheinst einen leichten Tick von der Sache bekommen zu haben.«

      Gitta beugte sich zu dem wackeligen Nachtkästchen vor und griff nach einer Zeitung. Dabei fiel ihr das strähnige, fette Haar ins Gesicht. Sie wischte es mit einer fahrigen Bewegung in den Nacken. Ihre vollen Lippen pressten sich zusammen, in ihren dunklen Augen stand Angst.

      »Schmeiß die Zeitung weg oder ich vergesse mich!«, herrschte Heribert Wied sie an. Er richtete sich im Bett auf. In seinem besonders schmalen Gesicht zuckte es, während seine hohe Stirnglatze im Schein des Lichts funkelte.

      Gitta erschrak, aber sie tat nicht, was er von ihr verlangte. Sie starrte auf ein Foto in der Zeitung und murmelte: »Sie ist es. Ganz bestimmt ist sie es, Heribert. Meine Schwester Helga.«

      »Ja, das hast du heute schon hundertmal gesagt. Gib mir jetzt in der Nacht wenigstens Ruhe damit. Du bist reif für die Nervenklinik. Und mit so was lebe ich zusammen. Es ist nicht zu glauben!« Heribert Wied ließ sich wieder zurückfallen und wollte sich die Bettdecke über den Kopf ziehen.

      Aber das verhinderte Gitta. Ihr Gesicht glühte vor Erregung, als sie entgegnete: »Tu nicht so, als ob dich das alles nichts anginge. Gib doch zu, dass du selbst einen Schreck gekriegt hast.«

      »Ja, ja, ja«, schrie Heribert. »Wie soll ich auch begreifen, dass deine Schwester auf einmal solchen Blödsinn macht? Kommt einfach nach Deutschland zurück, obwohl sie uns versprochen hat, in der Schweiz zu bleiben.«

      »Dieses Versprechen hat sie lange genug gehalten, Heribert. Wir brauchten die ganze Zeit keine Angst zu haben. Helga hing an dem Kind. Sie hätte es freiwillig nie hergegeben. Sie wusste, dass sie selbst nie Kinder kriegen würde.«

      Heribert Wied lachte giftig. »Ja, sie hatte den Anschluss verpasst, die gute Helga. Mit sechsunddreißig findet eine so zimperliche Trine, wie deine Schwester es war, so leicht keinen Mann mehr.«

      »Helga war immer kränklich. Dafür konnte sie nichts. Du solltest sie wirklich nicht ins Lächerliche ziehen, Heribert. Jetzt ist sie ja auch tot.« Tränen liefen über Gittas Gesicht.

      »Hör auf zu flennen. Du weißt, das kann ich absolut nicht leiden. Jetzt ist es passiert. Was läßt sich daran noch ändern?«

      Gitta legte die Zeitung wieder auf das Nachtkästchen. »Aber ich möchte wissen, wohin sie wollte. Zu uns?«

      Heribert Wied warf sich auf die Seite. »Davor hat uns ein gnädiger Gott bewahrt. Du siehst, er ist noch mit uns.«

      Nun streckte sich auch Gitta aus. »Du kannst nur lästern, Heribert. Vielleicht freut es dich auch noch, dass ich nun Helga verloren habe.«

      »Ja, es freut mich. Deine Besuche in der Schweiz haben mich ohnehin verrückt gemacht. Du musstest deine Schwester stets wiedersehen, musstest ihr auch noch Geld bringen. Aber daran, in welche Gefahr du mich damit brachtest, daran hast du nie gedacht. Du bist ein dummes Frauenzimmer, mehr nicht.«

      »Die Gefahr wäre für mich genauso groß gewesen, Heribert. Das vergisst du immer wieder. Und was soll jetzt mit dem Kind werden?« Gitta wollte sich schon wieder aufsetzen.

      Mit einer brutalen Handbewegung drückte er sie in die Kissen zurück. »Ich weiß nichts von einem Kind, hörst du? Das Kind, neben dem deine Schwester gestorben ist, wurde in ein Heim gegeben. Lass es dort in Ruhe. Etwas Besseres konnte uns nicht passieren. Ich warne dich, Gitta! Solltest du irgendwelche Dummheiten machen, werde ich mir zu helfen wissen. Ich lasse mir nichts anhängen.«

      Angst stieg in Gittas Augen auf. »Ich weiß, du würdest nun auch vor einem Mord nicht mehr zurückschrecken. Seitdem du damals das Kind entführt hast, bist du nicht mehr nur der kleine Einbrecher, der Gelegenheitsdieb.«

      »Damals hätten wir das große Geld machen können. Mit einem Schlag wären wir reich gewesen. Aber du hast das verhindert, nur du. Ich vergesse dir das nicht. Darüber reden wir schon noch einmal.«

      Jetzt knipste Heribert Wied selbst das Licht aus. Wenige Minuten später war er eingeschlafen.

      Gitta lag neben ihm und starrte in die Dunkelheit. Auch wenn sie jetzt das Bild der toten Frau in der Zeitung nicht mehr sehen konnte, blieb es doch vor ihren Augen.

      *

      Die kleine Gritli war nun schon vierzehn Tage in Sophienlust. Alle Nachforschungen der Polizei nach der Herkunft des Kindes waren vergeblich gewesen. Niemand schien Gritli zu vermissen. Genauso wenig wie die Tote.

      Inzwischen hatte kaum noch jemand Zweifel daran, dass diese Frau Gritlis Mutter gewesen war. Alles, was das Kind erzählt hatte, wies darauf hin. Auf die Frage nach dem Vater schüttelte es nur immer wieder den Kopf, bis es zu Denise von Schoenecker sagte: »Ich habe keinen Vati. Nur eine Tante Gitta. Aber die war nicht bei uns.«

      Manches Widersprüchliche tauchte in Gritlis Plappereien auf. Doch man musste ihr zugute halten, dass sie noch sehr klein war und dadurch vielleicht einiges durcheinanderwarf. So sagte sie zum Beispiel, dass ihre Mutti in einer Fabrik gearbeitet habe, aber dass sie nicht in der Stadt, sondern auf einem Berg gewohnt hätten.

      Dr. Anja Frey hatte darauf gedrungen, dass man das Kind zur Ruhe kommen ließ. Dafür hatte die Ärztin auch einen ganz bestimmten Grund. Sie und ihr Mann, Dr. Stefan Frey, hatten das Kind gründlich untersucht. Anfangs nur aus Vorsorgemaßnahmen, bald aber wegen bestimmter Beobachtungen. Gritli war nicht nur von Natur aus ein zartes, anfällig erscheinendes Kind, sie besaß auch einen schweren Herzschaden. Das stellte sich schon in den ersten Tagen heraus, als die Kinder von Sophienlust sich immer wieder darum bemühten, Gritli zum Spielen im Freien zu verlocken. Sie tat dann zwar ein paar Schritte, wollte so laufen wie die anderen, blieb aber stets bald stehen, rang nach Atem und wirkte durchscheinend blass. Meistens sagte sie dann: »Mutti sagt, ich darf nicht rennen.«

      Anja Frey hatte einen sehr erregenden Verdacht. Deshalb bat sie Denise von Schoenecker, mit dem Kind in eine Klinik fahren zu dürfen.

      Anja Frey fuhr mit Gritli nach Heidelberg. Als sie zurückkam, suchte sie sofort Denise von Schoenecker auf. Diese war sehr erschrocken über den Ernst auf dem Gesicht der jungen Ärztin.

      »Sie bringen keine gute Nachricht, Frau Doktor«, sagte Denise mit schwerer Stimme. »Nicht wahr?«

      »Die schlechteste. Eine, die ich befürchtet hatte. Aber bis knapp vor der Diagnose