das es verdient, gerettet zu werden. Wir wissen alle, jeder arbeitende Mensch, der sich Filme ansieht, weiß es, dass unser wahres Selbst reich, hübsch und beliebt ist und wir nur die richtigen Kleider anziehen und uns bewähren müssen, um genau so zu werden. Erfüllung ist eine individuelle, keine strukturelle Angelegenheit, und vermittelt wird sie durch strenge Konformität, die uns natürlich am besten zu einem Individuum macht, genau wie alle anderen auch.
Einer der grausamsten Streiche, den man der Generation meiner Mutter spielte, war wohl die Mär, dass das Recht, jeden schlecht bezahlten Knochenjob zu übernehmen, den sonst Männer verrichten, die einzige und ultimative Errungenschaft der Frauenbewegung sei. Stimmt, in den meisten westlichen Ländern haben Frauen heute für eine Arbeit, die auch ein Mann tun kann, ein gesetzliches Anrecht auf gleiche Bezahlung, auch wenn sie den Job erst einmal bekommen müssen.
In der Praxis jedoch sind Frauen am oberen Ende der Ge-halts- und Beschäftigungsskala nicht gerade üppig vertreten. Überrepräsentiert sind wir dafür wie eh und je in schlecht bezahlten, unterbezahlten und unbezahlten Jobs, in Haushalts- und Pflegeberufen und anderen Tätigkeiten, die in Sachen Bezahlung und gesellschaftliches Ansehen in der sozialen Hierarchie weit unten angesiedelt sind, eben weil diese Arbeit traditionell von Frauen verrichtet wird. Mit dem Irrglauben, wir befänden uns am Zielpunkt des feministischen Fortschritts, muss dringend aufgeräumt werden, und zwar schnell.
Perfekte Mädchen
Die Gesellschaft weiß schon, dass junge Mädchen abgefuckt sind. Das gehört ja zu ihrem Charme. Sie sind nicht nur Objekte, sie sind erbärmlich, hoffnungslos überfordert mit den Schwierigkeiten des Erwachsenenlebens, mit der verwirrenden Vielfalt von Möglichkeiten, die die moderne Gesellschaft für sie parat hält, von chirurgischer Unterleibspolitur bis hin zum Dienstleistungsjob. Eine Frau ist in der kollektiven Wahrnehmung des Westens so etwas wie ein Kleinkind im Bonbonladen: dermaßen überfordert von der großen Auswahl, dass das undankbare Ding einen Tobsuchtsanfall bekommt und auf den Boden kotzt. Aus abgefuckten Mädchen werden unglückliche Frauen. Eine Studie nach der anderen weist nach, dass Frauen und Mädchen unglücklich sind wie eh und je, überarbeitet, erschöpft, tablettenabhängig; ihnen werden dreimal so viele Rezepte ausgestellt wie Männern.31 Von den Titelseiten der Promimagazine kreischt uns ein Chor erfolgreicher Frauen entgegen, die am Rande des psychischen und physischen Zusammenbruchs stehen. Dieser Star hungert, jene Schauspielerin hat Depressionen, eine dritte trinkt nachts bis zur Bewusstlosigkeit, bis ihr die Kinder weggenommen werden. Den Mächtigen gefällt dieser Mythos: Frauen haben jetzt Gleichheit und Chancen und so weiter, aber sie kriegen es nicht auf die Reihe. Vielleicht hätte man es ihnen von Anfang an nicht geben dürfen.
Erwachsenwerden ist schwer, leichter ist es, sich dem Aufwachsen zu entziehen und einfach nur ein Mädchen zu bleiben. Das will schließlich auch die Familie so. Sie will, dass wir hübsch und nett sind und nie Ärger machen. Das liegt nicht etwa daran, dass sie uns nicht mögen und uns kleinhalten wollen. Nein, sie wollen nur unser Bestes, und wer die Welt objektiv beobachtet, sieht doch, dass hässliche und lästige Mädchen eher Probleme bekommen, eher zu einem Problem werden, und niemand will doch, dass wir ein Problem sind. Unser Freund auch nicht. Er ist so aufgewachsen, dass er in einer Beziehung kein echtes menschliches Wesen erwartet, sondern eine Hilfskraft, eine Wasserträgerin, eine Fleisch gewordene Wichsfantasie. Unser Chef genauso. Er oder sie will, dass wir das Spiel mitspielen. Sei ein gutes Mädchen. Lächle, schau, dass die anderen sich wohlfühlen; finde dich mit schlechter Bezahlung, Überstunden, gelegentlichen Grapschereien auf dem Flur ab, buhle mit den anderen jungen Frauen darum, wer die hübscheste, die gefügigste, die fleißigste ist, das Mädchen, das alle lieben. Nimm dir aber nie vor, mehr zu sein als das.
Ein Mädchen zu sein, das Mädchen zu sein, ist einfach, wenn wir weiß und durchschnittlich hübsch sind. Da ist nichts weiter dabei. In diesem Fall müssen wir die unerwünschten Bestandteile unserer Persönlichkeit nicht einmal völlig ablegen, das Schlaue und Schwierige, das Lärmende und Wütende, das Maskuline, Selbstständige und Ehrgeizige. Wir brauchen sie nur ein wenig zu dämpfen, bis sie nicht mehr sind als ein Hintergrundrauschen und das männliche Ohr sie nicht mehr wahrnimmt, und schon bald hören wir sie selber nicht mehr. Wir fahren sie herunter, schlingen sie hinunter wie die Mahlzeiten, die wir nicht essen dürfen, denn das Mädchen muss schlank und zerbrechlich bleiben, wenn es schön und geliebt sein will. Und wir wollen doch schön und geliebt sein.
Das ist vor allem ermüdend. Es ist ermüdend, ständig der Perfektion hinterherzuhecheln, sich Erholung zu versagen, sich um den Schlaf zu bringen, überall besser sein zu wollen. Perfekte Mädchen wissen, dass sie sich ständig weiter optimieren müssen. Perfekte Mädchen sitzen nicht auf dem Sofa und essen Kekse, nicht einmal, wenn ihre Lieblingssendung läuft. Perfekte Mädchen arbeiten unablässig: Wenn sie nicht in der Schule oder auf der Arbeit sind, treiben sie Sport, und wenn sie keinen Sport treiben, machen sie ehrenamtliche Arbeit, gehen einkaufen, organisieren ihr Privatleben wie ein Start-up-Unternehmen. Der größte Bär, der ihnen als Kind schon aufgebunden wurde, lautete: »Auf die inneren Werte kommt es an.« Es sind aber nicht die inneren Werte, auf die es ankommt. Perfekte Mädchen haben nie frei. Figuren, die überwiegend fiktiv sind, können sich nicht einfach so freinehmen.
Und perfekte Mädchen können noch so manches andere nicht:
Sie können keinen Geburtstagskuchen essen, ohne den Fettgehalt zu berechnen. Sie können nie an erster oder auch nur an zweiter Stelle an sich denken. Sie können keine Fehler machen, und das bedeutet, dass sie nie richtig erwachsen werden können, also können sie nur alt werden, und das ist für Kindmädchen etwas Furchtbares. Sie können nie ungepflegt das Haus verlassen oder im Park Purzelbäume schlagen, nur weil es Spaß macht.
Und wenn sie versagen, wenn sie es vermasseln, wird ihnen nicht verziehen.
Deshalb finden Mädchen leichter als junge Männer in der beschissenen Dienstleistungsbranche einen der mies bezahlten Jobs, die jungen Leuten überall in Europa und Amerika angedreht werden. Andere bedienen und ein hübsches Lächeln aufsetzen können Mädchen besser, auch wenn sie innerlich kreischen. So ist das eben, wenn man ein Mädchen ist.
Dass Mädchen in dieser Arbeit, die oft als »Emotionsarbeit« bezeichnet wird, besser sind, liegt nicht daran, dass ihnen das von Natur aus im Blut läge, sondern dass sie von Geburt an dazu erzogen werden. Wir werden dazu erzogen, uns um das Wohl anderer zu kümmern. Wir werden dazu erzogen, den Kaffee zu servieren, Formulare auszufüllen, Partys zu organisieren und hinterher den Tisch abzuwischen. Wir werden dazu erzogen, wenn nötig beherzt zu sein, aber nicht stark. Quirlig, aber nicht witzig. Nie darf es den Anschein haben, dass wir normale menschliche Körperfunktionen hätten, einen Körper, der pisst, pupst, scheißt, schwitzt und schwächelt. Schmücke das Gefängnis deines Körpers. Mach dich nützlich. Halt den Mund und lächle.
Das Privileg der Rebellion
Gregory Corso, Dichter der Beat Generation, antwortete auf die Frage, warum unter den überkandidelten, umjubelten, bekifften, sexuell experimentierfreudigen Dichtern der 1950er Jahre keine Frauen waren: »Es gab Frauen, sie waren da, ich kannte sie, ihre Familien steckten sie in die Anstalt, und sie bekamen Elektroschocks. In den Fünfzigern konntest du ein Rebell sein, wenn du ein Mann warst, aber wenn du eine Frau warst, hat dich deine Familie einsperren lassen. Es gab Fälle, die kannte ich; eines Tages wird jemand darüber schreiben.«32
Wer geistig gesund ist, entscheidet immer noch die Gesellschaft, und für Mädchen ist Rebellion besonders riskant. Mindestens so wichtig wie die eigenen Gefühle ist das Auftreten. Auch wenn wir innerlich auf dem Zahnfleisch gehen: Alles ist gut, solange wir unser Make-up auflegen und den Chef oder die Lehrerin anlächeln können. Andersherum wird ein etwas versponnenes Mädchen, das im Alltag zwar gut zurechtkommt, dessen Vorlieben aber zufällig nicht der Norm entsprechen, ruckzuck mit Psychopharmaka vollgepumpt, als Gefahr für die Gesellschaft eingestuft oder in die geschlossene Anstalt eingewiesen, je nachdem, wo sie zu Hause ist.
Geistige Gesundheit wird von der Gesellschaft definiert, und für Frauen und Mädchen liegt die Latte der Normalität beängstigend hoch. Wer sie überspringen