der Ferne erklang eine Glocke, und gleich darauf betraten drei Damen den Raum. Jede ging zu einem der Tische und nahm ihren Platz ein; Miss Miller setzte sich auf den vierten leeren Stuhl, der der Tür am nächsten stand und um den sich die Kleinsten versammelt hatten. Dieser untersten Klasse wurde ich zugeteilt und musste mich ganz hinten hinstellen.
Nun begann die Arbeit: Die Tageslosung wurde wiederholt, dann wurden bestimmte Textstellen aus der Heiligen Schrift aufgesagt und schließlich etliche Kapitel aus der Bibel gelesen. Dies dauerte eine Stunde. Als die Andacht zu Ende ging, war draußen bereits heller Tag. Die unermüdliche Glocke ertönte nun zum vierten Mal: Die Klassen mussten erneut antreten und zum Frühstück in einen anderen Raum marschieren. Wie froh war ich über die Aussicht, endlich etwas zu essen zu bekommen! Mir war jetzt fast schlecht vor Hunger, hatte ich doch am Tag zuvor kaum etwas zu mir genommen.
Der Speisesaal war ein großer, niedriger, düsterer Raum. Auf zwei langen Tischen dampften Schüsseln mit etwas Heißem, von dem jedoch zu meiner Bestürzung ein Geruch ausging, der alles andere als einladend war. Ich bemerkte allgemeinen Unmut und Unzufriedenheit, als die Ausdünstung der Mahlzeit die Nasen derjenigen erreichte, die sie verzehren sollten. Von der Spitze des Zuges, wo die großen Mädchen der ersten Klasse gingen, vernahm man ein leises Murmeln:
»Abscheulich! Der Haferbrei ist schon wieder angebrannt!«
»Ruhe!«, befahl eine Stimme; diesmal war es nicht die von Miss Miller, sondern sie gehörte einer der Oberlehrerinnen, einer kleinen, dunkelhaarigen, elegant gekleideten, aber irgendwie mürrisch wirkenden Person, die sich am Kopfende des einen Tisches niederließ, während eine eher rundliche Dame am anderen präsidierte. Vergebens hielt ich nach der Frau Ausschau, die ich am Abend zuvor kennen gelernt hatte; sie war nirgends zu sehen. Miss Miller hatte am unteren Ende des Tisches Platz genommen, an dem auch ich saß; und eine etwas eigenartig und ausländisch aussehende ältere Dame – die Französischlehrerin, wie ich später herausfand – hatte den entsprechenden Platz am anderen Tisch inne. Ein langes Tischgebet wurde gesprochen, ein Kirchenlied gesungen, dann brachte ein Dienstmädchen den Lehrerinnen Tee, und die Mahlzeit begann.
Gierig und mittlerweile schon recht geschwächt, verschlang ich ein, zwei Löffel voll von meiner Portion, ohne auf den Geschmack zu achten, doch kaum war der erste Heißhunger gestillt, merkte ich, was für ein ekelerregendes Zeug ich vor mir hatte – angebrannter Haferbrei ist fast so schlimm wie verfaulte Kartoffeln: Selbst ein Verhungernder schreckt rasch angewidert davor zurück. Die Löffel wurden nur langsam in Bewegung gesetzt. Ich sah, wie jedes Mädchen von dem Brei kostete und versuchte, ihn hinunterzuschlucken, aber fast alle gaben ihre Bemühungen bald auf. Das Frühstück war vorüber, und niemand hatte gefrühstückt. Nachdem das Dankgebet für etwas, das wir gar nicht bekommen hatten, gesprochen und ein zweites Kirchenlied heruntergeleiert war, kehrten wir aus dem Speisesaal in das Klassenzimmer zurück. Ich war eine der Letzten, und als ich an den Tischen vorbeiging, beobachtete ich, wie eine Lehrerin sich eine Schüssel nahm und den Haferbrei probierte. Sie schaute die anderen an; die Mienen aller drückten Missfallen und Unwillen aus, und eine von ihnen, die etwas Rundliche, flüsterte:
»Abscheuliches Zeug! Es ist eine Schande!«
Ehe der Unterricht wieder begann, verstrich eine Viertelstunde, in der ein wildes Durcheinander im Klassenzimmer herrschte. Während dieser Zeit schien es erlaubt zu sein, laut und ungezwungener zu sprechen, und die Mädchen machten von dieser Freiheit reichlich Gebrauch. Die Unterhaltung drehte sich ausschließlich ums Frühstück, über das alle tüchtig schimpften. Arme Dinger! Es war der einzige Trost, der ihnen blieb. Von den Lehrerinnen befand sich nur Miss Miller im Raum. Eine Gruppe älterer Mädchen stand um sie herum, sie sprachen mit ernsten und missmutigen Mienen auf sie ein. Ich hörte, dass einige Male Mr. Brocklehursts Name fiel, worauf Miss Miller stets missbilligend den Kopf schüttelte, doch gab sie sich keine große Mühe, der allgemeinen Empörung Einhalt zu gebieten: zweifellos teilte sie sie.
Eine Uhr im Schulzimmer schlug neun. Miss Miller verließ den Kreis der Mädchen, die sich um sie geschart hatten, trat in die Mitte des Raumes und rief: »Ruhe! Auf eure Plätze!«
Es herrschte Disziplin: Innerhalb von fünf Minuten kam erneut Ordnung in das wirre Menschenknäuel, und verhältnismäßige Ruhe löste das babylonische Stimmengewirr ab. Pünktlich nahmen die Oberlehrerinnen nun ihre Plätze wieder ein, aber alle schienen noch auf etwas zu warten. Auf den Bänken zu beiden Seiten des Raumes saßen die achtzig Mädchen regungslos und kerzengerade – einen seltsamen Anblick boten sie mit ihren glatt nach hinten gekämmten Frisuren, die kein Löckchen sehen ließen, ihren hochgeschlossenen braunen Kleidern mit den schmalen Kragen um den Hals und den kleinen (den Beuteln der Hochlandschotten ähnlichen) Leinentaschen, die vorne an ihren Röcken befestigt waren und als Handarbeitsbeutel dienten. Alle trugen Wollstrümpfe und grobe Schuhe mit Messingspangen. Über zwanzig der so gekleideten Schülerinnen waren bereits erwachsene Mädchen oder, besser gesagt, junge Frauen. Die Tracht stand ihnen schlecht und ließ selbst die hübschesten wunderlich und hässlich aussehen.
Während ich noch immer die Mädchen betrachtete und zuweilen auch die Lehrerinnen begutachtete – von denen mir übrigens keine wirklich gefiel, denn die Rundliche war ein wenig derb, die Dunkelhaarige recht grimmig, die Ausländerin schroff und absonderlich, und Miss Miller, die Arme, sah puterrot, abgehärmt und überarbeitet aus –, während also mein Blick von Gesicht zu Gesicht wanderte, schnellte die ganze Schulgemeinde gleichzeitig hoch, als würden alle von einer einzigen Feder bewegt.
Was war los? Ich hatte keinen Befehl gehört und war verwirrt. Noch ehe ich begriff, was vorging, saßen die Mädchen schon wieder, doch da nun aller Augen auf einen Punkt gerichtet waren, blickte ich ebenfalls in diese Richtung und entdeckte die Dame, die mich am Vorabend empfangen hatte. Sie stand am unteren Ende des Saales in der Nähe des Kamins, in dem ebenso ein Feuer brannte wie in dem am anderen Ende. Schweigend und ernst ließ sie ihren Blick über die beiden Reihen der Mädchen gleiten. Miss Miller trat zu ihr und fragte sie offenbar etwas. Nachdem sie eine Antwort erhalten hatte, kehrte sie auf ihren Platz zurück und sagte laut:
»Aufsicht der ersten Klasse, hol die Globen!«
Während diese Anordnung ausgeführt wurde, schritt die Dame langsam durch den Saal. Ich muss einen ausgeprägten Sinn für Verehrung haben, denn noch heute verspüre ich das Gefühl ehrfürchtiger Bewunderung, mit dem meine Augen jeden ihrer Schritte verfolgten. Jetzt, im hellen Tageslicht, erschien sie mir groß, hellhäutig und stattlich; braune, gütig blickende Augen und schöngeschwungene, lange Wimpern milderten die Blässe ihrer hohen Stirn; ihr recht dunkles Haar war, der Mode jener Zeit entsprechend, als weder glatte Haarsträhnen noch lange Ringellocken beliebt waren, an den Schläfen in kleine Löckchen gekräuselt; ihr Kleid war, ebenfalls der damaligen Mode folgend, aus purpurrotem Tuch und in spanischem Stil mit schwarzem Samt besetzt; eine goldene Uhr – und Uhren waren damals noch nicht so üblich wie heute – glänzte an ihrem Gürtel. Um ein vollständiges Bild zu erhalten, möge sich der Leser edle Gesichtszüge, einen blassen, aber reinen Teint, eine vornehme Haltung und ein würdevolles Auftreten hinzudenken, dann wird er sich – zumindest soweit Worte solche Dinge zu vermitteln vermögen – eine zutreffende Vorstellung von der äußeren Erscheinung Miss Temples bilden können – Maria Temple, wie ich später in einem Gebetbuch las, das ich für sie zur Kirche tragen durfte.
Die Leiterin von Lowood (denn das war diese Dame) setzte sich vor die beiden Globen, die auf einen der Tische gestellt worden waren, versammelte die erste Klasse um sich und begann mit dem Geografieunterricht. Auch die unteren Klassen wurden zu ihren Lehrerinnen gerufen, und eine Stunde lang wurde Geschichte, Grammatik etc. wiederholt und abgefragt; dann folgten Schreiben und Rechnen, während Miss Temple einigen der älteren Mädchen Musikunterricht erteilte. Die Dauer der einzelnen Unterrichtsstunden wurde nach der Uhr bemessen, die schließlich zwölf schlug. Die Schulleiterin erhob sich.
»Ich habe den Schülerinnen noch etwas mitzuteilen«, sagte sie. Nach Beendigung des Unterrichts hatte ein Lärmen und Schwatzen eingesetzt, das nun beim Klang ihrer Stimme sogleich wieder verstummte. Sie fuhr fort:
»Ihr habt heute Morgen ein Frühstück bekommen, das ihr nicht essen konntet; ihr seid