Charlotte Bronte

Jane Eyre. Eine Autobiografie


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Scatcherd ist jähzornig – du musst dich davor hüten, sie zu reizen; Madame Pierrot ist kein schlechter Mensch.«

      »Aber Miss Temple ist die beste, nicht wahr?«

      »Miss Temple ist sehr gütig und sehr klug; sie steht über all den anderen, weil sie viel mehr weiß als sie.«

      »Bist du schon lange hier?«

      »Zwei Jahre.«

      »Und bist du auch eine Waise?«

      »Meine Mutter ist tot.«

      »Bist du glücklich hier?«

      »Du stellst reichlich viele Fragen. Für den Augenblick habe ich dir genug gesagt. Jetzt möchte ich weiterlesen.«

      Doch da ertönte die Essensglocke, und alle kehrten ins Haus zurück. Der Duft, der nun den Speisesaal erfüllte, war kaum appetitanregender als der, der unsere Nasen beim Frühstück empfangen hatte. Das Essen wurde in zwei riesigen Zinnschüsseln aufgetragen, denen starker, nach ranzigem Fett riechender Dampf entstieg. Ich stellte fest, dass die Mahlzeit aus einer Mischung von einigermaßen genießbaren Kartoffeln und eigenartigen rotbraunen Fleischfetzen bestand, die zusammen gekocht worden waren. Von dieser Kost erhielt jede Schülerin einen recht gut gefüllten Teller voll. Ich aß, so viel ich konnte, und fragte mich im Stillen, ob die Verköstigung jeden Tag so sein würde.

      Nach dem Essen begaben wir uns sofort ins Schulzimmer. Der Unterricht wurde wieder aufgenommen und bis fünf Uhr fortgesetzt.

      Das einzige erwähnenswerte Ereignis dieses Nachmittags bestand darin, dass das Mädchen, mit dem ich auf der Veranda gesprochen hatte, während einer Geschichtsstunde bei Miss Scatcherd in Ungnade fiel, vom Unterricht ausgeschlossen wurde und sich in die Mitte des großen Schulzimmers stellen musste. Diese Art der Bestrafung erschien mir im höchsten Grade demütigend, vor allem für ein so großes Mädchen – sie war gewiss schon dreizehn, vielleicht sogar noch älter. Ich erwartete, sie werde sich zutiefst bekümmert oder beschämt zeigen, aber zu meiner Überraschung weinte sie nicht, ja errötete nicht einmal. Ernst, aber gefasst, stand sie da, den Blicken aller ausgesetzt. ›Wie kann sie es nur so ruhig und standhaft ertragen?‹, fragte ich mich. ›Befände ich mich an ihrer Stelle, wünschte ich, die Erde täte sich auf und verschlänge mich. Sie sieht aus, als denke sie an etwas ganz anderes, an etwas, das mit ihrer Strafe, mit der schrecklichen Situation, in der sie sich augenblicklich befindet, nicht das Geringste zu tun hat – als sei sie mit den Gedanken weit weg und nähme ihre Umgebung gar nicht mehr wahr. Ich habe einmal etwas von Wachträumen gehört – ob sie einem solchen Wachtraum nachhängt? Ihre Augen sind auf den Boden gerichtet, aber ich bin sicher, sie sehen ihn nicht – ihr Blick scheint nach innen gekehrt, in ihr Herz: ich glaube, sie betrachtet Dinge, die in ihrer Erinnerung leben, und nicht das, was hier geschieht. Was für ein Mädchen sie wohl sein mag – ein gutes oder ein unartiges?‹

      Kurz nach fünf bekamen wir eine weitere Mahlzeit, die aus einem kleinen Becher Kaffee und einer halben Scheibe Schwarzbrot bestand. Gierig verschlang ich das Brot und trank genüsslich meinen Kaffee, aber gern hätte ich die doppelte Portion gehabt, denn ich war noch immer hungrig. Dann folgten eine halbstündige Pause, die Arbeitsstunde, das Glas Wasser mit dem Stückchen Haferkuchen, schließlich das Abendgebet und das Schlafengehen. Das war mein erster Tag in Lowood.

      Kapitel 6

      Der nächste Tag begann wie der vergangene mit Aufstehen und Anziehen bei Kerzenlicht. Auf die Zeremonie des Waschens mussten wir an diesem Morgen indes verzichten, denn das Wasser in den Krügen war gefroren. Das Wetter hatte am Abend zuvor umgeschlagen, und ein scharfer Nordostwind, der die ganze Nacht durch die Fensterritzen unseres Schlafsaals pfiff, hatte uns in unseren Betten vor Kälte zittern und den Inhalt der Wasserkrüge zu Eis werden lassen.

      Während des endlos erscheinenden eineinhalbstündigen Betens und Bibellesens glaubte ich, vor Kälte umkommen zu müssen. Endlich kam die Frühstückszeit, und diesmal war der Haferbrei nicht angebrannt; er war durchaus essbar, aber es gab nur wenig. Wie winzig mir meine Portion erschien! Ich wünschte, ich hätte die doppelte Menge erhalten.

      Im Laufe des Tages wurde ich der vierten Klasse zugeteilt und erhielt die üblichen Aufgaben und Beschäftigungen. Bisher hatte ich den Unterricht in Lowood nur als Zuschauerin verfolgt, nun sollte ich selbst eine Rolle spielen. Da ich keine Übung im Auswendiglernen hatte, kamen mir die Lektionen anfangs lang und schwierig vor; auch der häufige Wechsel von einem Gegenstand zu einem andern verwirrte mich, und ich war froh, als mir gegen drei Uhr nachmittags Miss Smith einen etwa zwei Meter langen Streifen Musselin zusammen mit Nadel, Fingerhut etc. in die Hand drückte und mich mit dem Auftrag, ihn einzusäumen, in eine ruhige Ecke des Schulzimmers schickte. Die meisten anderen Mädchen nähten um diese Zeit ebenfalls, nur eine Klasse war noch um Miss Scatcherd versammelt und las. Da es sonst im Raum ganz still war, konnten wir hören, welche Themen gerade behandelt wurden, wie sich die einzelnen Mädchen ihrer Aufgabe entledigten und wie Miss Scatcherd mit kritischen oder lobenden Bemerkungen die jeweilige Leistung bewertete. Es ging um englische Geschichte. Unter den Schülerinnen, die vorlasen, bemerkte ich meine Bekannte von der Veranda: Zu Beginn der Stunde hatte sie den ersten Platz in der Klasse eingenommen, doch aufgrund eines Aussprachefehlers oder des Überlesens von Satzzeichen wurde sie plötzlich auf den allerletzten Platz verwiesen. Aber selbst so weit hinten entging sie Miss Scatcherds Aufmerksamkeit keinen Augenblick, und fortwährend ermahnte sie sie mit Bemerkungen wie:

      »Burns (so hieß sie offenbar, denn die Mädchen wurden hier alle bei ihren Familiennamen gerufen, wie anderswo die Jungen), du hast die Füße einwärts gedreht, stell dich sofort ordentlich hin.« – »Burns, du streckst dein Kinn höchst unerfreulich vor. Lass das!« – »Burns, heb gefälligst den Kopf; ich verbitte mir diese Haltung«, etc.

      Nach zweimaliger Lektüre eines Kapitels wurden die Bücher geschlossen und die Mädchen geprüft. Die Lektion hatte einen Teil der Regierungszeit Karls I. behandelt, und nun folgten allerlei Fragen über Fass- und Pfundzölle und Schiffssteuer, die die meisten offenbar nicht beantworten konnten. Doch jede kleine Schwierigkeit war sofort gelöst, wenn die Reihe an Burns kam: Sie schien den Stoff der ganzen Stunde im Gedächtnis behalten zu haben und wusste auf alles eine Antwort. Ich nahm an, Miss Scatcherd werde sie für ihre Aufmerksamkeit loben, stattdessen rief sie jedoch plötzlich:

      »Du widerlicher Schmutzfink! Du hast dir heute früh die Fingernägel nicht saubergemacht!«

      Burns entgegnete nichts; ich wunderte mich über ihr Schweigen. ›Warum‹, so überlegte ich, ›sagt sie nicht, dass sie weder ihre Nägel reinigen noch sich das Gesicht waschen konnte, weil das Wasser gefroren war?‹

      Dann wurde meine Aufmerksamkeit durch Miss Smith abgelenkt, die mich bat, zu ihr zu kommen und einen Strang Garn für sie zu halten. Während sie ihn aufwickelte, unterhielt sie sich ab und zu mit mir und erkundigte sich, ob ich schon früher zur Schule gegangen sei, ob ich sticken, nähen und stricken könne und so weiter. Bis sie mich entließ, konnte ich deshalb Miss Scatcherds Vorgehen nicht weiter beobachten. Als ich aber an meinen Platz zurückkehrte, hörte ich, wie sie gerade einen Befehl erteilte, dessen Bedeutung ich allerdings nicht begriff, doch unmittelbar danach verließ Burns das Klassenzimmer, ging in den kleinen Nebenraum, in dem die Bücher aufbewahrt wurden, und kehrte nach einer halben Minute mit einem Reisigbündel in der Hand zurück, das an einem Ende zusammengebunden war. Dieses unheilvolle Instrument überreichte sie Miss Scatcherd mit einem artigen Knicks. Danach löste sie wortlos und ohne dazu aufgefordert worden zu sein ihre Schürze, und augenblicklich versetzte ihr die Lehrerin mit der Rute ein Dutzend heftige Schläge auf Nacken und Schultern. Keine einzige Träne stand in Burns’ Augen, und während ich in meiner Näharbeit innehielt, weil meine Finger angesichts dieses Schauspiels vor ohnmächtiger Wut und stiller Empörung zitterten, änderte kein Zug ihres ernsten, nachdenklichen Gesichts seinen üblichen Ausdruck.

      »Du verstocktes Ding!«, rief Miss Scatcherd. »Deine Schlampigkeit und Nachlässigkeit ist dir einfach nicht auszutreiben! Bring die Rute zurück.«

      Burns gehorchte. Ich musterte sie aufmerksam, als sie aus der Bücherkammer herauskam. Sie steckte gerade ihr Taschentuch weg,