Charlotte Bronte

Jane Eyre. Eine Autobiografie


Скачать книгу

Spuren. Blumen lugten unter den Blättern hervor: Schneeglöckchen, Krokusse, purpurrote Aurikeln und goldäugige Stiefmütterchen. An den (unterrichtsfreien) Donnerstagnachmittagen unternahmen wir nun Spaziergänge, auf denen wir noch lieblichere Blumen fanden, die unter den Hecken am Wegesrand erblühten.

      Ich entdeckte auch, dass es außerhalb der hohen, mit eisernen Spitzen bewehrten Mauern unseres Gartens etwas Wunderschönes gab, etwas, das mir große Freude und einen Genuss bereitete, dem allein der Horizont Grenzen setzte, nämlich den Anblick einer von erhabenen Gipfeln gesäumten, weiten und schattigen Talmulde mit reicher Vegetation und einem klaren Bächlein voller dunkler Steine, dessen Ufer im Sonnenlicht funkelte. Wie anders hatte diese Landschaft ausgesehen, als sie unter einem eisengrauen Winterhimmel vor Kälte erstarrt und in Schnee gehüllt vor mir ausgebreitet gelegen hatte – als Nebelschwaden, eisig wie der Tod, vom Ostwind an diesen purpurnen Gipfeln entlanggetrieben wurden und schließlich auf die Wiesen und Auen niedersanken, bis sie sich mit dem gefrorenen Nebel des Bächleins vermischten! Das Bächlein selbst war damals ein reißender Sturzbach gewesen, der Baumstämme und Äste in Stücke riss, mit seinem Getöse die Luft erfüllte und oft durch heftige Regengüsse oder wirbelnden Schneeregen sogar noch stärker anschwoll. Und was den Wald an seinen Ufern anlangte, so hatte der nur aus Reihen von dünnen Gerippen bestanden.

      Der April ging in den Mai über – es war ein herrlicher, heiterer Mai mit blauem Himmel, mildem Sonnenschein und lauen West- und Südwinden während des ganzen Monats. Die Natur entfaltete sich mit frischer Kraft. Lowood erstrahlte in neuem Glanz; überall grünte und blühte es; seine mächtigen Ulmen-, Eschen- und Eichenskelette erwachten erneut zu majestätischem Leben; Waldpflanzen sprossen verschwenderisch in den verborgensten Winkeln und Ecken; unzählige Moosarten bedeckten die Mulden, und die wilden Schlüsselblumen, die überall in Hülle und Fülle wuchsen, leuchteten wie eine eigenartige, vom Boden scheinende Sonne. Selbst an schattigen Stellen bemerkte ich ihren blassgoldenen Schimmer, der gleichsam wie verstreute Sonnenstrahlen die hübschesten Muster in das Halbdunkel zauberte. All das genoss ich nun oft und in vollen Zügen, frei, unbeaufsichtigt und fast allein. Für diese ungewohnte Freiheit, dieses ungewohnte Vergnügen gab es freilich einen Grund, auf den ich jetzt zu sprechen kommen muss.

      Habe ich nicht eine liebliche Landschaft beschrieben, in der man sich gern häuslich niederlässt, inmitten von Hügeln und Wäldern, an den Ufern eines Baches? Nun ja, lieblich gewiss, ob aber auch gesund, das ist eine andere Frage.

      Jenes waldige Tal, in dem Lowood lag, war nämlich eine Brutstätte für Nebel und damit auch für Seuchen, deren Keime in dem feuchten Klima einen günstigen Nährboden fanden und mit dem erwachenden Frühjahr an Gefährlichkeit zunahmen. Sie drangen in das Waisenhaus ein, verbreiteten in seinem überfüllten Klassenzimmer und Schlafsaal Typhus und verwandelten, noch ehe der Mai anbrach, die Schule in ein Krankenhaus.

      Unzureichende Ernährung und verschleppte Erkältungen hatten die meisten Schülerinnen für eine Ansteckung anfällig gemacht: von den achtzig Mädchen lagen fünfundvierzig gleichzeitig krank zu Bett. Der Unterricht wurde abgebrochen, die Hausordnung gelockert. Den wenigen, die gesund geblieben waren, gewährte man nahezu unbeschränkte Freiheit, denn der Arzt bestand darauf, dass viel Bewegung an der frischen Luft unerlässlich sei, wenn man einer Erkrankung vorbeugen wollte, doch hätte ohnedies niemand Zeit und Muße gehabt, sie zu beaufsichtigen oder ihnen Vorschriften zu machen. Miss Temples gesamte Aufmerksamkeit wurde von den Kranken in Anspruch genommen; sie lebte im Krankenzimmer und verließ es nur, um sich einige Stunden Nachtruhe zu gönnen. Die Lehrerinnen waren voll und ganz mit Kofferpacken und anderen notwendigen Reisevorbereitungen für die Glücklichen unter den Mädchen beschäftigt, deren Freunde oder Verwandte in der Lage und willens waren, sie von diesem Seuchenherd zu entfernen. Viele hatten sich indes bereits angesteckt und kehrten nur nach Hause zurück, um dort zu sterben; andere starben in der Schule und wurden still und schnell begraben, denn die Natur dieser Krankheit ließ keinen Aufschub zu.

      Während sich die Krankheit so in Lowood eingenistet hatte und der Tod ein häufiger Gast geworden war; während in seinen Mauern Kummer und Angst herrschten, die Zimmer und Korridore von Krankenhausgerüchen erfüllt waren und Arzneien und Räucherkerzen vergeblich gegen den Gifthauch des Todes ankämpften, schien draußen die Maisonne vom wolkenlosen Himmel auf die steilaufragenden Hügel und herrlichen Wälder. Auch der Garten hatte sich in ein leuchtendes Blumenmeer verwandelt: Die Stockmalven waren baumhoch emporgeschossen, die Lilien hatten sich geöffnet, Tulpen und Rosen standen in voller Blüte; die Einfassungen der kleinen Beete schmückten rosa Grasnelken und karmesinrote Tausendschönchen; die Weinrosen verbreiteten morgens wie abends ihren würzigen, apfelähnlichen Duft. Doch diese wohlriechende Pracht war für die meisten Bewohnerinnen Lowoods wertlos, außer wenn dann und wann einmal eine Handvoll Pflanzen und Blüten als Sargschmuck diente.

      Ich und die anderen, die wir gesund geblieben waren, genossen indes die Schönheiten der Landschaft und der Jahreszeit in vollen Zügen: Von morgens bis abends konnten wir wie Zigeuner im Wald umherstreifen; wir taten, was wir wollten, gingen, wohin wir wollten. Wir lebten auch besser: Mr. Brocklehurst und seine Familie hüteten sich jetzt davor, auch nur in die Nähe von Lowood zu kommen. Niemand überprüfte mehr irgendwelche Haushaltsangelegenheiten; die mürrische Wirtschafterin war gegangen, die Angst vor Ansteckung hatte sie aus dem Haus getrieben, und ihre Nachfolgerin, bisher Vorsteherin der Armenapotheke von Lowton, war mit den Gepflogenheiten in ihrer neuen Wirkungsstätte nicht vertraut und teilte verhältnismäßig großzügige Portionen an uns aus. Zudem waren nun ja auch weniger hungrige Mäuler zu stopfen, denn die Kranken konnten nicht viel zu sich nehmen. Unsere Frühstücksschalen waren voller, und wenn sie, was häufig vorkam, keine Zeit hatte, ein ordentliches Mittagessen zu kochen, gab sie uns ein großes Stück kalter Pastete oder eine dicke Scheibe Brot mit Käse, die wir in den Wald mitnahmen und uns dort, wo es uns am besten gefiel, schmecken ließen.

      Mein Lieblingsplatz war ein glatter, breiter Stein, der weiß und trocken genau in der Mitte des Baches herausragte und den man nur erreichen konnte, wenn man durchs Wasser watete – eine Heldentat, die ich barfuß vollbrachte. Der Stein war gerade breit genug, um mir und einem zweiten Mädchen bequem Platz zu bieten, das damals meine auserwählte Gefährtin war – eine gewisse Mary Ann Wilson, ein kluges, aufgewecktes Persönchen, in dessen Gesellschaft ich mich wohl fühlte, zum einen, weil sie geistreich und originell war, und zum anderen, weil sie eine Art hatte, die mich meine Schüchternheit vergessen ließ. Da sie einige Jahre älter war als ich, wusste sie mehr von der Welt und konnte mir viel berichten, was mich interessierte. Sie stillte meine Neugier, war meinen Fehlern gegenüber äußerst nachsichtig und gängelte oder zügelte mich nicht, ganz gleich, was ich auch sagte. Ihre Stärke lag im Erzählen, meine im Zergliedern und Deuten einer Sache; sie liebte es, zu belehren, ich stellte gern Fragen. So kamen wir glänzend miteinander aus, und unsere Gespräche bereiteten uns großes Vergnügen, auch wenn wir nicht unbedingt viel daraus lernten.

      Und wo war Helen Burns währenddessen? Warum verbrachte ich diese süßen Tage der Freiheit nicht mit ihr? Hatte ich sie vergessen? Oder war ich so nichtswürdig und niederträchtig, dass ich der Gesellschaft ihres reinen Wesens überdrüssig geworden war? Ohne Frage war die von mir erwähnte Mary Ann Wilson meiner ersten Freundin unterlegen. Sie konnte zwar amüsante Geschichten erzählen und über jeden anzüglichen, prickelnden Klatsch plaudern, den ich gerade zur Sprache brachte, während Helen, wenn ich die Wahrheit über sie gesagt habe, denjenigen, denen es vergönnt war, mit ihr zu sprechen, einen Einblick in unendlich viel höhere Dinge zu vermitteln vermochte.

      Das ist wahr, lieber Leser, und ich wusste und spürte dies sehr wohl. Und bin ich auch nur ein unvollkommenes Geschöpf mit vielen Fehlern und wenigen guten Eigenschaften, so wurde ich doch Helen Burns’ nie überdrüssig und hörte auch nie auf, eine so große, zärtliche Zuneigung und tiefe Achtung für sie zu empfinden, wie sie mein Herz bis dahin noch nie erfüllt hatten. Wie hätte es denn auch anders sein können, wo Helen mir doch jederzeit und in jeder Situation eine stille und aufrichtige Freundschaft entgegengebracht hatte, die weder jemals durch Launenhaftigkeit beeinträchtigt noch durch Streit getrübt wurde? Aber nun war Helen Burns krank. Schon vor mehreren Wochen war sie meinen Blicken entzogen worden. Man hatte sie in irgendeines der Zimmer im Obergeschoss gebracht, in welches, wusste ich nicht; ich erfuhr aber, dass sie sich nicht in dem Teil des Gebäudes befand, der als Hospital