Charlotte Bronte

Jane Eyre. Eine Autobiografie


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vorübergehen würde.

      In diesem Glauben wurde ich noch durch die Tatsache bestärkt, dass sie ein-, zweimal an sehr warmen, sonnigen Nachmittagen herunterkam und von Miss Temple in den Garten geführt wurde; allerdings durfte ich auch bei diesen Gelegenheiten nicht zu ihr gehen und mit ihr sprechen. Ich konnte sie nur vom Fenster des Schulzimmers aus sehen, und auch dies nur recht undeutlich, denn sie saß in einiger Entfernung auf der Veranda und war ganz in Decken eingehüllt.

      Eines Abends Anfang Juni war ich mit Mary Ann sehr lange draußen im Wald geblieben. Wir hatten uns wie gewöhnlich von den anderen getrennt und waren weit gewandert – so weit, dass wir uns schließlich verirrt hatten und in einer einsam gelegenen Hütte nach dem Weg fragen mussten. Dort lebten ein Mann und eine Frau, die eine Herde halbwilder, sich im Wald von Eicheln und Eckern ernährender Schweine hüteten. Als wir Lowood erreichten, war der Mond bereits aufgegangen. Vor dem Gartentor stand ein Pony, das, wie wir wussten, dem Arzt gehörte. Mary Ann meinte, es müsse wohl jemand sehr krank sein, wenn Mr. Bates zu so später Stunde noch gerufen werde. Sie ging ins Haus, während ich noch einige Minuten im Garten blieb, um in meinem Beet ein paar Wurzeln einzupflanzen, die ich im Wald ausgegraben hatte, denn ich fürchtete, sie könnten vertrocknen, wenn ich sie bis zum Morgen liegenließe. Danach zögerte ich noch immer hineinzugehen. Die Blumen dufteten so süß, als sich der Tau auf sie senkte. Es war ein herrlicher Abend, so mild und friedlich. Der noch glühendrote Himmel im Westen verhieß auch für den nächsten Tag wieder schönes Wetter, während im dunklen Osten majestätisch der Mond höher stieg. All dies nahm ich wahr und hatte meine kindliche Freude daran, als mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss, der mir bis dahin noch nie in den Sinn gekommen war:

      ›Wie traurig, jetzt auf dem Krankenbett zu liegen und vielleicht sogar sterben zu müssen! Diese Welt ist schön – wie schrecklich wäre es, abberufen zu werden und wer weiß wohin gehen zu müssen!‹

      Und zum ersten Mal bemühte mein Verstand sich ernstlich zu begreifen, was man ihm über Himmel und Hölle eingeflößt hatte. Und zum ersten Mal schreckte er verwirrt zurück; zum ersten Mal sah er sich von einem unermesslichen Abgrund umgeben, gleichgültig, ob er nach vorne, zur Seite oder zurück blickte. Ich fühlte, dass es nur einen einzigen festen Punkt gab – die Gegenwart; alles andere verschwamm zu formlosem Nebel, war haltlose Tiefe. Mich schauderte bei dem Gedanken, zu straucheln und mitten in dieses Chaos hinabzustürzen. Während ich noch über diese neue Vorstellung nachgrübelte, hörte ich, wie die Haustüre geöffnet wurde; Mr. Bates trat, von einer Krankenschwester begleitet, ins Freie. Sie wartete, bis er sein Pferd bestiegen hatte und davongeritten war, und wollte gerade die Tür wieder schließen. Rasch lief ich zu ihr hin.

      »Wie geht es Helen Burns?«

      »Sehr schlecht«, war die Antwort.

      »War Mr. Bates ihretwegen hier?«

      »Ja.«

      »Und was sagt er?«

      »Er sagt, sie wird nicht mehr lange hier sein.«

      Wäre dieser Satz gestern in meiner Hörweite geäußert worden, so hätte ich damit nur verbunden, dass sie nach Hause, nach Northumberland, geschickt werden sollte. Ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass damit gemeint sein könnte, sie liege im Sterben. Jetzt aber wusste ich es sofort. Ich begriff nur zu gut, dass Helen Burns’ Tage auf dieser Welt gezählt waren und dass sie bald in das Reich der Geister eingehen würde, sofern es ein solches Reich wirklich gab. Im ersten Augenblick war ich vor Entsetzen wie gelähmt, dann ergriff mich tiefer Kummer, und schließlich empfand ich den brennenden Wunsch, das unbändige Verlangen, sie zu sehen. Ich fragte, in welchem Zimmer sie liege.

      »Sie ist in Miss Temples Zimmer«, sagte die Krankenschwester.

      »Darf ich zu ihr hinaufgehen und mit ihr sprechen?«

      »O nein, Kind, das ist völlig ausgeschlossen! Und jetzt ist es Zeit, dass du hereinkommst. Der Tau fällt schon, und du holst dir nur auch noch das Fieber, wenn du noch länger draußen bleibst.«

      Die Pflegerin schloss die Haustür; ich schlüpfte durch den Nebeneingang hinein, der ins Schulzimmer führte, und kam gerade noch rechtzeitig: es war neun Uhr, und Miss Miller forderte die Mädchen auf, zu Bett zu gehen.

      Etwa zwei Stunden später, es mochte gegen elf Uhr sein – ich hatte nicht einschlafen können und aus der vollkommenen Stille im Schlafsaal geschlossen, dass alle meine Gefährtinnen in tiefem Schlaf lagen –, erhob ich mich leise, streifte mir mein Kleid über das Nachthemd, schlich mich ohne Schuhe aus dem Raum und machte mich auf die Suche nach Miss Temples Zimmer. Es lag am entgegengesetzten Ende des Hauses, doch ich kannte den Weg, und das Licht des Sommermondes, das vom wolkenlosen Himmel hier und da durch die Flurfenster fiel, half mir, es mühelos zu finden. Ein scharfer Geruch von Kampfer und heißem Essig schlug mir entgegen, als ich mich dem Saal mit den Fieberkranken näherte. Ich huschte schnell an seiner Tür vorbei, denn ich fürchtete, die Nachtschwester könnte mich hören. Ich hatte Angst davor, entdeckt und zurückgeschickt zu werden, denn ich musste Helen einfach sehen – ich musste sie umarmen, bevor sie starb, ich musste ihr einen letzten Kuss geben, ein letztes Wort mit ihr wechseln.

      Nachdem ich die Treppe hinuntergeschlichen, im Untergeschoss einen Teil des Hauses durchquert und zwei Türen geräuschlos geöffnet und wieder geschlossen hatte, erreichte ich erneut eine Treppe; ich stieg sie hinauf und stand vor Miss Temples Zimmer. Durch das Schlüsselloch und einen Spalt unter der Tür drang Licht. Ringsum herrschte tiefste Stille. Als ich näher trat, sah ich, dass die Tür nur angelehnt war, wahrscheinlich um ein wenig frische Luft in das stickige Krankenzimmer einzulassen. Ich wollte die Ungewissheit nicht länger ertragen: Voller Ungeduld, Seele und Sinne qualvoll angespannt und schmerzerfüllt, stieß ich sie auf und blickte hinein. Meine Augen suchten Helen und fürchteten, den Tod anzutreffen.

      Neben Miss Temples Bett und von dessen weißen Vorhängen halb verdeckt stand ein kleines Kinderbett. Unter der Decke konnte ich die Umrisse eines Körpers erkennen, das Gesicht war jedoch hinter den Vorhängen verborgen. Die Pflegerin, mit der ich im Garten gesprochen hatte, saß in einem Lehnstuhl und schlief. Auf dem Tisch flackerte matt eine ungeputzte Kerze. Miss Temple war nicht zu sehen; später erfuhr ich, dass man sie zu einem Mädchen, das im Fieber phantasierte, in den Krankensaal gerufen hatte. Ich betrat das Zimmer und blieb an dem Kinderbett stehen. Meine Hand berührte den Vorhang, doch dann hielt ich es für besser, etwas zu sagen, ehe ich ihn zurückzog. Noch immer schauderte ich bei dem schrecklichen Gedanken, einen Leichnam zu sehen.

      »Helen«, flüsterte ich kaum hörbar. »Bist du wach?«

      Sie bewegte sich und schlug den Vorhang zurück, und nun konnte ich auch ihr blasses, eingefallenes, aber völlig gefasstes Gesicht sehen. Sie hatte sich so wenig verändert, dass meine Befürchtungen sogleich zerstreut wurden.

      »Bist du es, Jane?«, fragte sie mit der ihr eigenen sanften Stimme.

      ›Ach‹, dachte ich, ›sie wird nicht sterben; sie irren sich; wenn sie wirklich im Sterben läge, könnte sie doch nicht so ruhig sprechen und aussehen.‹

      Ich setzte mich auf ihr Bettchen und gab ihr einen Kuss. Ihre Stirn war kalt, auch ihre Wangen waren kalt und zudem abgemagert, ihre Hände und Handgelenke ebenfalls, aber sie lächelte wie früher.

      »Warum bist du hergekommen, Jane? Es ist schon nach elf; vor ein paar Minuten erst habe ich die Uhr schlagen hören.«

      »Ich wollte dich sehen, Helen. Ich habe gehört, du seiest sehr krank, und ich konnte nicht einschlafen, ohne vorher mit dir gesprochen zu haben.«

      »Dann bist du also gekommen, um Abschied zu nehmen, und dies wohl gerade zur rechten Zeit.«

      »Gehst du denn fort, Helen? Gehst du nach Hause?«

      »Ja, in mein letztes Zuhause – meine ewige Heimat.«

      »Nein, nein, Helen!« Bedrückt hielt ich inne. Während ich versuchte, meine Tränen zurückzudrängen, wurde Helen von einem Hustenanfall geschüttelt, der jedoch die Pflegerin nicht weckte. Als er vorüber war, lag sie ein paar Minuten erschöpft da, dann flüsterte sie:

      »Du bist ja barfuß, Jane;