Gisbert Haefs

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG


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Dauerwerbesendungen zeichnete sich nicht so sehr durch seine Lautstärke aus, als vielmehr durch eine geradezu teuflische Penetranz. Lautstärke und Frequenz waren abgestimmt auf maximale Wirksamkeit bei gleichzeitig ausreichender Akzeptanz. Niemand konnte die Werbung ignorieren – bewusst oder unbewusst. Und doch erreichte sie nur selten ein Niveau, das den Empfänger empfindlich gestört hätte.

      »Ausblenden!«, befahl Venter. Einer der Untersuchungstechniker kam der Aufforderung sofort nach. Ein Vertreter des Rumpfstaates zu sein, hatte eindeutig Vorteile. Ein normaler Bürger war nicht in der Lage, die vertraglich eingegangene Verpflichtung zum dauerhaften, individuellen Werbekonsum so einfach zu umgehen.

      ›Immerhin‹, dachte sich Venter, der ehemalige Bewohner hatte sich mit den Werbeabos und den damit verbundenen Einnahmen oder Vergünstigungen einen gewissen, wenn auch nicht gerade hohen Lebensstandard sichern können: Es gab einige Geräte, die das Minimalniveau überstiegen, darunter eine beinahe schon luxuriöse Espressomaschine.

      Venter lächelte ironisch in sich hinein: ›Hauptsache, die Crema stimmt!‹

      Er warf einen ersten Blick auf den Schreibtisch, oder das, was er dafür hielt.

      Einige Ausdrucke lagen dort, ungeordnet, verschmiert mit irgendetwas Unsäglichem und mit gewaltigen Eselsohren.

      »Schon gewählt?«, erkundigte sich Kelber beiläufig. Natürlich reagierte der interaktive iFLOW sofort und nutzte die Aufmerksamkeit des Teilnehmers.

      iFLOW: WAHLAUFFORDERUNG

      voteSTREAM:LEVEL1:ENTER:

      CONSCIOUS:reaction delay: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

      ID 9990123-834747-XXX

      PRIORITY:High:delay:VOTE reflexion necessary:delayed reaction: immidiate reaction blocked.

      Politics:Parliamant.Local.

      Download: selection list

      VOTE:

      Appendix: Ballot

      Venter verzog das Gesicht. Natürlich hatte er bisher nicht gewählt – wie Kelber sehr gut wusste. Dennoch blendete er den Votestream erneut mit einem einfachen Fingertip aus. Der Personal-iFLOW-Server lenkte die Wahlaufforderung einmal mehr in die Warteschleife.

      »Angenehm, wenn man’s wegdrücken kann, nicht?«, erkundigte sich Fredkowski, seines Zeichens Leiter der KTU-Gruppe. Venter grunzte nur und sah unter halb geschlossenen Augenlidern nach links, wo zwei jüngere Kollegen die üblichen Schattenkämpfe ausführten. Ein recht neues Phänomen unter denjenigen, die den iFLOW nicht mehr über die altmodische Hardwarebrücke am Handgelenk nutzten, sondern voll in das iFLOW-NET integriert waren. Ein Mediziner hatte die Erscheinung als »Übersprung- und Kompensationshandlung« bezeichnet.

      »Und manche genießen das!«, knurrte Venter giftig.

      Die beiden Angesprochenen nahmen den Kommentar nicht einmal zur Kenntnis, sondern fuhren fort, neben ihrer Tätigkeit ziellos in der Gegend herumzufuchteln. Ein bizarres Bild, das dem Kommissar Magendrücken verursachte. Diese Menschen hatten die Realität zu einem Gutteil verlassen und gegen eine hochaufgelöste Virtualität eingetauscht. Wanderer zwischen den Welten … und nie ganz bei der Sache.

      Venter war mit einem Mal speiübel.

      »Level X-low!«, murmelte Kelber leise und nahm vorsichtig einige Blätter in die Hand. »Name: Malik Perwane, neunundzwanzig Jahre alt. Ohne Beschäftigung, natürlich. Stufe V. Auf Jahre hinaus nicht vermittelbar. Migrationshintergrund in dritter Generation.«

      Venter überflog die behördlichen Bescheide und fand seine Vermutung bestätigt. Unterstes Existenzniveau, ergänzt durch die Scheineinkommen aus den Dauerwerbeverträgen: Die Aufgabe jeglichen werbefreien Raumes in der privaten Umgebung war ein häufig angewandtes Mittel, den eigenen Unterhalt zu bestreiten. Er war sicher: Sogar Schlafzimmer, Toilette und Bad würden mit den Werbeflächen bedeckt sein und ohne Unterbrechung ihre Botschaften in die Welt plärren. Individualisiert, mit den Massedaten abgeglichen und so sehr auf die Wünsche der Person abgestimmt, dass Manipulation und freier Wille zu etwas Monströsem verschmolzen. Keine Chance, dem Marketingdruck zu entgehen: nicht im Wachen, nicht im Schlaf. Und allzu häufig als normale Sendung getarnt. Product-Placement auf höchstem Niveau.

      ›So still war es in dieser Wohnung seit vielen Jahren nicht mehr‹, dachte er. Das Brennen im Hals verstärkte sich. ›Noch kann man sich freikaufen, wenn man sich's leisten kann. Irgendwann wird auch das unmöglich sein.‹

      Venters linkes Augenlid zuckte nervös, wenn er nur daran dachte, und begann leicht zu schwitzen. Verärgert strich er die Feuchtigkeit, die seine Stirn bedeckte, in seinen stark nach hinten verschobenen Haaransatz. Er wandte sich um und trat zu dem Toten, der beinahe in der Mitte des Raumes lag.

      Nichts deutete auf ein Gewaltverbrechen hin. Der Tote selbst wirkte beinahe friedlich. Er beugte sich nach vorn. Der junge Pathologe blickte auf und sah den Kommissar ratlos an.

      »Und, Sperling?«, fragte dieser. »Was haben Sie?«

      Der Gerichtsmediziner räusperte sich. Man sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte, dann erhob er sich. »Ich fürchte, das kann ich Ihnen einmal mehr nicht sagen, Kommissar!«

      Venter runzelte die Stirn.

      »Ich hab’ mich verhört?«

      »Nein! Leider nicht. Tut mir leid. Ich kann nicht einmal im Ansatz beurteilen, woran der Mann gestorben ist! Schon wieder! Äußere Hinweise auf Gewalt gibt es nicht, bis auf eine Unterblutung im Bereich des Schlüsselbeins – sieht für mich nach einer Sturzverletzung aus. Könnte dort an der Schreibtischkante passiert sein. Ich kann einen tiefen Schnitt anbieten – dummerweise war der nicht letal. Verkrampfungen, die auf Koronartod hinweisen würden, gibt’s ebenfalls nicht!«

      Venter blickte den jungen Pathologen böse an: »Worauf hinweisen?«

      Jetzt grinste der junge Mediziner, dem man das Engagement und die Energie des Berufsanfängers noch anmerkte: »Herzinfarkt, Kommissar Venter. Herzinfarkt!«

      »Das werden immer mehr«, brummte Venter unwillig. »Kann mir jemand zum Teufel noch mal sagen, was das soll? Eine Epidemie von Leuten, die aufhören zu leben. Mit neunundzwanzig stirbt man nicht so. Er sieht nicht krank aus. Oder seh’ ich das falsch?«

      Er wandte sich dem Toten zu: »Auch keine Zeichen für einen Schlaganfall, ein Aneurysma oder etwas Vergleichbares …«

      »Selbstmord? Bitte!«

      Der Pathologe verzog den Mund.

      »Wäre ja schön. Gift oder Drogenmissbrauch … möglich. Aber das kann ich erst nach dem Drogenscreening und dem toxikologischen Gutachten sagen. Hinweise darauf habe ich nicht entdecken können. Nichts Auffälliges, würde ich meinen. Und das Übrige …« Er grinste, und Venter beendete den Satz: »… nach der Autopsie!«

      Er seufzte: »Ich weiß!«

      Die Kommission II des PAP lag im Dunkeln. Nur in einem Büro brannte eine kleine, grelle Schreibtischlampe. Venter saß still in seinem Drehstuhl und starrte nach draußen in die Nacht. Er fühlte sich merkwürdig. Nach wie vor ätzte die Magensäure sich ihren Weg nach oben und ignorierte hartnäckig alle Versuche, sie mit Natron in den Griff zu bekommen. Das alte Hausmittel hatte Venter wiederentdeckt, nachdem alles andere, was ihm die Ärzte empfohlen hatten, kläglich versagt hatte. Er wusste, dass er sich mit schnellen Schritten einem offenen Magengeschwür näherte, doch die extrem teure Spezialbehandlung würde seine kompletten Rücklagen – ohnehin nicht üppig – und dazu ein komplettes Jahresgehalt verschlingen, Beamtenzuschuss hin oder her. Die Beschwerden waren als »minderwichtig« klassifiziert worden – und somit kein Problem der allgemeinen Gesundheitsversorgung. Zudem hatte er etliche Vergünstigungen durch dauerhaft unerwünschten Lebenswandel verloren. Er atmete tief durch.

      Vor ihm lagen einige Asservate dieses sonderbaren Falles. Das PAP war gehalten, die Untersuchungen, was