Ishida auf den ersten Blick. Der zierliche Körperbau, die feinen asiatischen Gesichtszüge, die kerzengerade Haltung: Sie wirkte genau wie auf dem 3D-Bild in ihrer Akte, das er noch im Shuttle angesehen hatte.
Sie hob die rechte Hand zum traditionellen militärischen Gruß auf Schläfenhöhe. »Willkommen an Bord, Captain Cross. Die Admiralität hat leider versäumt, ihre Ankunft rechtzeitig bekannt zu geben.«
»Vielen Dank, Commander.« Er erwiderte die Ehrenbezeugung. »Machen Sie sich nichts daraus. Admiral Sjöberg wusste wohl, wie knapp bemessen unser Zeitplan ist. Wir werden später noch genug Zeit für Etikette haben. Wie ich sehe, wird eifrig gearbeitet. Stören wir die Leute nicht länger. Bitte bringen Sie mich direkt auf die Kommandobrücke.«
Während sie den Shuttlehangar verließen, entlud der Pilot Cross' Gepäck.
»Die Alpha-Schicht ist komplett versammelt«, sagte Ishida. »Commander Lorencia, Ihre Chefingenieurin, koordiniert die letzten Feineinstellungen des Interlink-Antriebs. Sobald wir die Freigabe erhalten, kann es losgehen.«
»Ausgezeichnet.«
In seinem Gesichtsfeld erschien ein Eingabefenster. Beinahe wäre er gestolpert. »Verdammt!« Abrupt blieb er stehen.
»Sir?« Verwirrt blickte seine I.O. ihn an. Dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich verstehe, Sie wurden also ebenfalls nicht informiert.«
»Nicht informiert?«
»Der Computer stellt eine Verbindung zu Ihrem Kommandochip her.«
Seit einigen Jahren besaß die komplette Brückencrew eines Schiffes einen solchen Chip. Auf ihm waren alle notwendigen Kommandocodes gespeichert, um auf neuralgische Schiffsfunktionen zuzugreifen.
Dem Captain und seinem I.O. war es mit diesen Codes möglich, die interne Sicherheit zu überbrücken oder die Selbstzerstörung auszulösen. Stellten die Lebenszeichensensoren in den Anzügen der Crew den Tod eines der Offiziere fest, wurden die entsprechenden Codes auf dem Chip des Nachfolgers automatisiert freigeschaltet.
Ein solcher Chip musste aber bisher bei Dienstantritt vom Chefarzt auf der Krankenstation aktiviert werden.
»Die HYPERION wurde mit dem neuen Incept-System ausgestattet. Mit den alten Systemen konnten die Codes auf den Chips der Führungsoffiziere zwar in Notfallsituationen freigeschaltet werden, bei Dienstantritt auf einem neuen Schiff war jedoch eine manuelle Übertragung der aktuellen Codes durch einen Sicherheitschip notwendig. Um diesen einzusetzen, mussten Chefarzt und Sicherheitschef anwesend sein und die Freigabe autorisieren. So zumindest bisher. Das neue System überträgt die Daten nun sofort, wenn ein Führungsoffizier sein neues Schiff betritt.« Ishida grinste ihn an. »Glauben Sie mir, ich war genauso überrascht wie Sie. Aber die Admiralität baut das neue System schon seit Monaten in die Schiffe ein. Bestätigen Sie die Anfrage der K.I., und alle Codes werden auf Ihren Chip überspielt.«
Cross befolgte den Rat seiner I.O. Der Chip projizierte eine Statusanzeige auf seine Netzhaut, die den Fortschritt der Übertragung anzeigte. Einige Sekunden später war alles vorbei.
Gemeinsam gingen sie weiter.
»Es gefiel mir schon nicht, als diese verdammten Dinger vor fünf Jahren eingeführt wurden«, sagte Cross. »Und jetzt ist sogar eine drahtlose Übertragung der Kommandocodes möglich. Was haben diese Technik-Heinis der Flotte sich dabei nur gedacht?«
»Die Argumentation für die Einführung der Chips war stichhaltig, Captain«, widersprach Ishida. »Durch die Vernetzung des Chips mit dem Hirn des jeweiligen Kommandooffiziers stehen Codes nur diesem Offizier zur Verfügung. Sie können nicht geklaut oder kopiert werden. Auch bei einer Enterung des Schiffes fallen sie dem Feind nicht in die Hände. Und bei einer Entnahme zerstört der Chip sich selbst. Die Vorschriften …«
»Ich weiß, was die Vorschriften besagen«, unterbrach er sie. Mit einem Zischen fuhren die Türen zur Seite und sie betraten den multidirektionalen Lift. Jayden berührte das Kommandobrücken-Icon auf der 3D-Touch-Oberfläche, worauf die Kabine sich auf Magnetfeldern in Bewegung setzte. »Trotzdem war mir schon immer unwohl bei dieser Sache.«
»Dann sind Sie generell kein Anhänger von technischen oder bionischen Erweiterungen?«
Der Lift kam zum Stehen. Sie betraten das Kommandodeck und hielten vor dem Schott zur Hauptbrücke an. Ein bläulich glimmender Strahl tastete sie beide ab.
»Ich will meinen Körper in seiner natürlichen Form behalten«, erwiderte er. »Aber meine Urgroßeltern waren auch noch gegen genetische Aufwertung und heute gehört das zum Alltag. Die Gesellschaft verändert sich.«
»Das tut sie. Und urplötzlich gehört man zum alten Eisen.« Ishida lächelte bitter.
Das Schott rollte zur Seite und gab den Weg ins Zentrum des Interlink-Kreuzers frei.
*
»… werden wir gemeinsam die Herausforderung meistern.«
Jayden atmete auf, als die Brückencrew applaudierte und sich alle nach und nach wieder ihren Konsolen widmeten. Er war kein guter Redner, doch diese war ihm scheinbar gelungen, obwohl er sie aus dem Stegreif gehalten hatte. Damit war zumindest das erste Eis zwischen ihm und seinen Offizieren gebrochen. In den folgenden Tagen würde er natürlich mit jedem ein ausführliches Gespräch führen. Aber einstweilen galt es, sein neues Schiff kennenzulernen.
Die Kommandobrücke glich in ihrer Form einem abgeflachten Ei. Die HYPERION besaß als eines der ersten Raumschiffe einen Holotank, genau in der Mitte der Zentrale. Das Ganze sah aus, als hätte jemand einen Quader an die Decke geklebt, an dessen unterem Ende eine Tischplatte befestigt war. Das Gegenstück stand auf dem Boden. Zwischen den beiden Platten konnte ein Feld aus gerichteten Gravitations-Ebenen aufgebaut werden, in dem die entsprechenden Pixel projiziert wurden.
Die Primärkonsolen der Senioroffiziere waren ringsherum angeordnet. Jeder von ihnen musste nur den Kopf heben, um auf den Holotank sehen zu können.
Der Kommandosessel des Captains – und damit sein neues zweites Zuhause – stand neben dem von Commander Ishida auf einem leicht erhobenen Podest gegenüber des Brückenschotts.
Wie Perlen einer Kette reihten sich zudem ringsum an der Wand die Sekundärstationen auf. Hier arbeiteten Wissenschaftler, Astrogatoren und Taktiker, um die Primärstationen mit Daten zu versorgen.
»Sir, die Orbitalwerft wünscht einen guten Flug«, meldete Lieutenant Sarah McCall von der Kommunikationskonsole. Jayden fühlte bei ihrem Anblick sofort eine Art Beschützerinstinkt aufwallen. Die junge Offizierin wirkte wie ein Hundewelpe, den man ins kalte Wasser geworfen hatte.
»Richten Sie meinen Dank aus«, sagte Jayden.
Während McCall in ihr Headset sprach, wandte er sich an Lieutenant Peter Task, den Navigator. »Also gut, Mister Task, bringen Sie uns raus.«
Der bullige Mann mit dem roten Stoppelhaar nickte behäbig. Nach außen wirkte es, als sei Peter Task ständig in Gedanken versunken und fände nur kurz in die Wirklichkeit zurück, um seinen Pflichten als Navigator nachzukommen.
Neben Jayden streckte seine I.O. die Beine aus und loggte sich in ihren Kommandoaccount ein. Er tat es ihr gleich und wurde prompt mit einer Flut an Nachrichten in seinem persönlichen Speicher begrüßt. Admiral Sjöberg wünschte einen guten Flug, die Raumkontrolle sendete ihren Abschlussbericht, die Sicherheit und das Technikteam meldeten den aktuellen Status. Der »Papierkram« begann bereits vor dem Start. Mit einer Wischbewegung schob er das Nachrichteninterface zur Seite und öffnete die Dateien, die die technischen Spezifikationen des Schiffes enthielten.
Die HYPERION beschleunigte und ließ den Mars weiter hinter sich. Der Interlink-Kreuzer brachte es auf 3700 m/s² und würde damit in etwa zehn Stunden 0,45 LG erreicht haben. An diesem Punkt wechselten gewöhnliche Schiffe in den Phasenraum, da der Fusionsfluss zur Energiegewinnung aus bisher ungeklärten Gründen bei dieser Geschwindigkeit zusammenbrach, worauf die Raumer nicht weiter beschleunigen konnten.
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