Die Regentropfen patschten auf seinen Rücken, den Hinterkopf, die frei liegenden Knöchel. Schlamm bedeckte sein Gesicht.
Er lachte.
Wenn der Kerl ihn jetzt sehen könnte. Alex hatte sein Gesicht vor sich. Den sauberen Maßanzug, das Kräuseln der Lippen, die hochgezogene Braue. Nach all seinem Einsatz hatte er den Job nicht bekommen. Warum? Das hatte man ihm sogar gesagt. Weil er von hier stammte, vom Ende der Welt, aus den Slums.
Wieder musste er lachen, er konnte sich kaum noch beruhigen.
Um Brixton zu verlassen, benötigte er einen Job. Doch um einen solchen zu bekommen, musste er Brixton verlassen.
Ein Paradoxon. Die unlösbare Aufgabe, die ihn an dieses Leben fesselte.
Alex kam in die Höhe.
Er kauerte auf den Knien, den Oberkörper nach vorne gebeugt, das Gesicht gen Boden gerichtet. Schlamm und Dreck. Sah so seine Zukunft aus?
Sein Blick wanderte zum Himmel.
Ein Blitz schlug in eine der Baracken ein. Es donnerte.
Aufgebracht spannte er die Muskeln an. Die Wut wurde übermächtig. Er brüllte sie hinaus, ließ seinem Hass auf die grausame, unfaire Realität freien Lauf. Tränen rannen über seine Wangen – und entfachten noch mehr Groll.
»Ist das alles?«, brüllte er dem Schicksal entgegen. »Ist es das, was du willst? Mich im Dreck liegen sehen?!«
Das Schicksal antwortete.
Alex kniff die Augen zusammen.
Was war das? Ein grüner Schimmer glitt heran und vertrieb die Schwärze. Direkt über ihm kam er zum Stillstand. Ein glühender Ball aus purer Energie.
Alex erhob sich.
Bildete er sich das ein? Drehte er nun völlig durch?
Der Ball schmolz. Das glatte Objekt wurde zu einem verschlungenen Ding.
Dann schoss es nach vorne.
Direkt in Alex hinein.
Er brüllte. Sein Innerstes wurde zerrissen und neu zusammengesetzt. Nichts blieb verborgen, jede Faser seines Seins kam an die Oberfläche, verband sich mit den grünen, verwobenen Fäden, die Form anzunehmen begannen.
Zuerst entstand ein Strahlen rund um seinen Körper.
Aura, flüsterte etwas in seinem Inneren.
Sein Körper wurde der Schwerkraft entrissen, glitt in die Höhe und kam wenige Meter über dem Boden in der Luft zum Stillstand. Er hing zwischen den Gewalten, spürte Sturm und Regen auf die Haut peitschen. Sein Haar war nur mehr eine nasse Masse, die an seinem Schädel klebte.
Das grüne Ding verband sich mit der Hülle, der Aura und verschmolz endgültig. Anders konnte er den Gedanken nicht beschreiben. Alex wurde eins mit dem, was da in ihm war. Es nahm Form an, färbte sich neu ein.
Ein lodernder Schmerz peitschte durch seinen Geist.
Alex schrie ihn hinaus in die Nacht, ließ ihn eins werden mit den Gewalten. Und während pures Feuer durch seine Adern floss, erwachte tief in seinem Inneren das Erbe der Macht.
1. Erinnerungen
Einige Stunden zuvor
Nebel waberte im Licht des heraufziehenden Tages, umspielte den Tau, der von den Blättern tropfte. Sie schritt durch das feuchte Gras, zwischen den steinernen Engeln hindurch. Die gemeißelten Figuren hatten den alten Glanz längst eingebüßt. Flügel waren zerbrochen, Risse durchzogen die Leiber, ihre Hände hielten sie flehend gen Himmel gestreckt, als warte dort die Erlösung. Unkraut überwucherte die fein ausgearbeiteten Gesichter.
Jen schob das Geäst einer Hecke beiseite.
Der Garten hinter dem halb verfallenen Haus glich längst einem Dschungel. Nur ein paar Schlingpflanzen hielten die kleine Pagode noch aufrecht, das Dach war eingestürzt. Die Säulen liefen in knorrigem Gestrüpp aus. Im Sommer mochte der Wildwuchs noch einen gewissen Charme besitzen, im Spätherbst wirkte er einfach nur trostlos.
Selbst die gewaltige Eiche, die seit Generationen im Zentrum des Gartens thronte, ihre weiten Äste wie Arme ausbreitete und stets Stabilität und Zuversicht verströmte, konnte Jen das beklemmende Gefühl nicht nehmen, das sich ihrer bemächtigte.
Es war stets dasselbe.
Mit jedem Schritt, der sie den Gräbern näherbrachte, kämpfte die Erinnerung in ihr gegen das Vergessen. Einen Kampf, das wusste Jen, den sie am Ende verlieren würde. Sie wollte die Bilder wegsperren, die Ereignisse nicht erneut durchleben, all das einfach hinter sich lassen. Doch die Schuld war immer da. Manchmal vergingen Wochen oder Monate, in denen der Alltag sie gefangen hielt. Das brachte Vergessen.
Irgendwann kamen die Bilder allerdings zurück, sobald sie lange genug am Abgrund ihres Bewusstseins gelauert hatten. Meist geschah das, wenn sie nicht einschlafen konnte, ihre Gedanken einfach davontrieben. Hin und wieder sogar im Schlaf, in den Träumen.
Sie erreichte die Grabsteine.
Drei an der Zahl. Zwei große und ein kleinerer, der verdeutlichte, dass ihre Schwester zum Zeitpunkt des Todes noch ein Teenager gewesen war.
Es gab nur wenige Augenblicke in ihrem Leben, in denen sie es bereute, eine Lichtkämpferin zu sein. Die Magie war in ihr erwacht, das Sigil entflammt, seitdem stand sie auf der Seite des Lichts. Die verborgene Welt der Magie kennenzulernen, glich einer atemberaubenden Achterbahnfahrt; Schrecken und Euphorie lösten einander ab. Ständig. Sie fand neue Freunde, die zur Familie wurden. Das Castillo bezeichnete sie längst als Heimat.
Doch stets war ihr bewusst, welch grauenvollen Preis sie dafür hatte zahlen müssen.
Oder genauer: Welchen Preis ihr habt zahlen müssen.
Sanft strich sie über Janas schlichten Grabstein. Wie oft hatten sie als Kinder gestritten. Typische Schwestern.
Jen lächelte.
Obgleich sie damals als einzige Überlebende das Familienvermögen geerbt hatte, hielt sie die Gräber schlicht. Es ging nicht um Pomp oder Größe, nein, die Erinnerung war bedeutsam.
Ihre Hand wanderte weiter zu dem Stein ihrer Mutter. Die ersten Tränen kamen. Sie erinnerte sich an den liebevollen Blick, die weichen Gesichtszüge und die verträumten Augen. Das Haar ihrer Mutter hatte stets nach Blüten geduftet, ihr Atem nach Minze. Erst später war noch ein anderer Geruch hinzugekommen, der von den Minze-Bonbons nicht hatte übertüncht werden können. Doch wenigstens hatte sie es versucht.
Im Gegensatz zu ihm.
Als habe sie sich verbrannt, zuckte ihre Hand zurück, bevor sie seinen Grabstein berühren konnte.
Ihr Blick erfasste die eingemeißelte Schrift.
Was ich einst war, das bist nun du. Was ich nun bin, wirst du einst sein.
»Dieser Spruch hätte dir gefallen, Dad, habe ich recht?« Sie wollte ausspucken. »In der Hölle sollst du schmoren.«
Die Bilder kamen in einer Abfolge aus beißendem Schmerz. Das blaue Auge ihrer Mutter, untermalt durch die aufgeplatzte Lippe. Janas Schreie, dazu Regen und Donner. Wunde Fingerknöchel. Lachen.
Jen spürte, wie ihre Konzentration nachließ.
Das Sigil in ihrem Inneren reagierte auf den Schmerz. Violette Blitze züngelten, tanzten über Haut und Finger.
Eine der obersten Regeln, die jeder Lichtkämpfer zu Beginn verinnerlichen musste, war gleichzeitig auch die simpelste: Wirke niemals Magie, wenn Emotionen im Spiel sind. Maximale Konzentration, so lautete das Credo. Andernfalls konnten Zauber entarten, die Folgen mochten katastrophal sein.
Wer wusste das besser als sie.
»Jen?!«, erklang Marks Stimme.
Sie