Andreas Suchanek

Das Erbe der Macht - Band 1: Aurafeuer (Urban Fantasy)


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Essenz war auf ein bedrohliches Minimum reduziert worden.

      »Lauf«, krächzte er. »Sonst sterben wir beide.«

      Jen ballte die Fäuste. Wut schoss in ihr empor. Es musste einfach eine Möglichkeit geben. »Nein.«

      »Doch«, sagte Mark sanft. »Du hast nur noch Minuten.«

      Sie schaltete jede Emotion ab, warf sich herum und rannte davon. Im Laufen berührte sie den Kontaktstein unter ihrem Shirt, versuchte, das Castillo zu informieren. Die schwarze Magie, die überall ringsum in der Luft lag, verhinderte es.

      Im Geiste sah sie, wie die letzte Essenz, die Marks Sigil innewohnte, aufgezehrt wurde.

      Ab einem solchen Moment war jeder Magier in Lebensgefahr, musste er jede magische Aktivität sofort einstellen. Denn nun bediente sich der gewobene Zauberspruch über das Sigil an der Auraenergie.

      Sie rannte polternd die Treppe hinab, ließ aber ihren Weitblick – der mühelos die Wände durchdrang – auf dem Freund und Gefährten ruhen.

      Marks Aura flammte auf; eine grünliche Sphäre, die seine Körperkonturen nachbildete. Das Artefakt zog Energie davon ab, zehrte die letzte schützende Hülle auf, die normalerweise dazu gedacht war, das Sigil zu bändigen und gleichermaßen zu schützen.

      Jen knallte in vollem Lauf gegen die Eingangstür. Der Nebeleffekt war längst fort. Mit zitternden Fingern riss sie ihren Essenzstab in die Höhe und zeichnete das Symbol für den Materietransfer.

      Holz zu Nebel.

      Endlich wich das Hindernis, sie hetzte hinaus.

      Ein Blick zurück zeigte ihr, dass das Ende gekommen war. Marks Aura verschwand. Es gab keine Essenz und keine Aura mehr, nichts, dass das Sigil hielt. Es expandierte abrupt. Eine Aura aus purem Feuer äscherte Mark augenblicklich ein. Das gesamte Herrenhaus erbebte, die Wände brachen fort, Fensterscheiben explodierten. Die Druckwelle schleuderte Jen davon.

      Ihr Bewusstsein erlosch.

      Kevins Körper verkrampfte. Von einem Augenblick zum nächsten war er hellwach. In seinem Geist loderte eine gewaltige grüne Flamme, bevor sie von Schwärze verschluckt wurde. Stöhnend rollte er zur Seite, krachte auf den Boden, wo er zitternd liegen blieb. Tränen brachen aus ihm heraus.

      Mark ist tot.

      Das Netz, das alle Lichtkämpfer eines Teams verband, übertrug den Moment des Ablebens an die anderen. Gleichzeitig war der Ausbruch eines Sigils, wenn es in pure Essenzenergie transformierte, überall auf der Welt für Magier wahrnehmbar. Das Gefüge der Magie schrie auf, weil einer der Ihren zu Tode gekommen war.

      »Hey«, erklang eine zärtliche Stimme. Max war plötzlich neben ihm, bettete Kevins Kopf in seinen Schoß. »Atme langsam ein und aus.«

      Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Die Muskeln entkrampften. Der körperliche Schmerz zog sich zurück. Doch der andere, der seelische Schmerz, blieb. Begreifen, realisieren, verarbeiten – jeder Gedanke ging so zähflüssig wie Sirup.

      Max schaute traurig auf ihn herunter. Das dunkelblonde Haar war noch zerzaust, in den braunen Augen waren die letzten Reste Schlaf sichtbar. Er trug lediglich Shorts. »Wer ist es?«

      Da sie seit drei Jahren ein Paar waren, hatte der Rat Max aus Kevins Team herausgeholt. Gingen Lichtkämpfer eine Beziehung oder eine Affäre ein, durften sie nicht länger zum gleichen Einsatzteam gehören. Daher hatte sein Freund auch nur gespürt, dass jemand gestorben war, doch nicht wer.

      »Mark«, sagte Kevin. Zitternd kam er in die Höhe.

      »Was ist mit Jen? Waren sie nicht beide unterwegs?«

      »Stimmt. Aber sie scheint noch okay zu sein.« Er taumelte kurz. Das Abbild des Aurafeuers hatte sich in seinen Geist gebrannt. Nun mussten sie schnell handeln. Er schlüpfte in Jeans, zog ein Shirt über und steckte den Essenzstab hinter seinen Gürtel.

      Dann rannte er hinaus.

      Der Rat musste informiert werden, ebenso die anderen. Auf den Gängen begegneten ihm Lichtkämpfer. Der Schock des Aurafeuers stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben. Genau wie die Frage: Wer war gestorben? Er ignorierte die fragenden Blicke.

      Erst die Kälte an seinen Fußsohlen ließ ihn realisieren, dass er barfuß aus dem Zimmer gerannt war.

      Egal.

      Er rempelte einen Neuerweckten zur Seite, rannte in einen Bibliothekar und konnte gerade noch einem Ordnungsmagier ausweichen. Dann hatte er die Kammer erreicht. Von hier führte eine schmale Wendeltreppe hinab in die Katakomben unter dem Castillo. Beinahe wäre er gestolpert und vermutlich wie eine menschliche Kugel nach unten gesaust – er hätte sich alle Knochen gebrochen. Im letzten Augenblick fand er das Gleichgewicht wieder.

      Verschwitzt und atemlos erreichte er die Krypta. Sie war bereits dort, begrüßte ihn mit einem Nicken. »Kevin. Der Verlust, den dein Team erlitten hat, tut mir leid.«

      Er schluckte. Mochte sich Johanna von Orléans noch so viel Mühe geben, sich auf ihrer Stufe zu bewegen, so blieb sie doch eine Unsterbliche mit der Lebenserfahrung von Jahrhunderten. Es war fast unmöglich, in ihrer Gegenwart nichts von der Erhabenheit zu spüren, die sie wie ein Fluidum umgab. »Danke. Hat es bereits reagiert?«

      »Nein«, sagte Johanna. Sie trug das rötlich-blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine modische weiße Bluse, Jeans und einfache Stoffschuhe verliehen ihr das Aussehen einer Frau Anfang vierzig, die vor Kraft nur so sprühte. »Doch es kann nicht lange dauern. Das Aurafeuer ist erloschen, das Sigil nun reine Energie. In wenigen Minuten wird es sich wieder manifestieren … irgendwo.«

      In irgendwem. Kevin nickte. Niemand wusste, auf welcher Grundlage sich die Sigilmagie einen Nachfolger wählte. Doch in ihm würde das Erbe der Macht lebendig werden. Ein neuer Magier würde zum Teil der Gemeinschaft werden, sein altes Leben als Nimag – Nichtmagier – hinter sich lassen.

      Vor ihnen stand das Wertvollste, was die Lichtkämpfer besaßen. Ein fester Quader aus schwarzem Onyx. Ihn vor dem Zugriff der Schattenkämpfer zu bewahren, war die wichtigste Aufgabe – gleich nach dem Schutz des Walls. Seit mittlerweile einhundert Jahren versuchten die feindlichen Kämpfer, den Wall zu Fall zu bringen, damit sie wieder über ihre gesamte Magie gebieten konnten. Die Barriere hatte die Erinnerungen der Menschen an das Übernatürliche getilgt und verbarg Magie vor den Augen der Nimags. Doch die dafür notwendige Essenz zog sie aus allen magischen Geschöpfen ab, was das Magiepotenzial aller Magier abwertete.

      Der Onyxquader schien mit dem Wall in Verbindung zu stehen. Der Rat wusste um dessen Geheimnis, teilte es jedoch mit niemandem. Normalerweise zerriss es Kevin vor Neugierde, wenn er dem Artefakt gegenüberstand. Nicht aber heute. Er spürte lediglich Trauer, die sich mit dem Schmerz über den Verlust eines Freundes vermengte.

      Jemand keuchte.

      Max stürmte herein. Er grüßte Johanna mit einem »Hi« und warf Kevins Turnschuhe vor dessen Füße. »Hast du vergessen. Ist vielleicht kalt hier unten. Alles klar?« Er hatte sein Haar notdürftig gebändigt und schenkte ihm einen liebevollen Blick. In diesem Augenblick hätte Kevin ihn gerne in die Arme genommen. Aber nicht hier. Nicht jetzt.

      »Alles klar«, gab er daher nur zurück.

      Ein Schluchzen erklang. Kurz darauf betrat Clara die Krypta. Sie wischte die Tränen beiseite und reckte das Kinn empor. Ihr langes, seidig-schwarzes Haar, die glatten Gesichtszüge und die tiefbraune Haut verliehen ihr das Aussehen einer nubischen Prinzessin. Sie umarmten sich.

      »Dann ist euer Team fast komplett«, stellte Johanna fest. »Chris ist in einem Gebiet ohne Portal unterwegs und Jen wird ebenfalls nicht rechtzeitig hier sein. Ich habe einen Portalmagier nach London geschickt, er wird nach ihr sehen. Die Ordnungsmagier werden sie außerdem befragen.«

      »Was ist mit Chloe?«, fragte Kevin.

      »Ihr Einsatz dauert