Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE


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Fünfunddreißig

       Sechsunddreißig

       Epilog

       Danksagungen

       Über die Autorin

      Eins

      Das Kamel trat vorsichtig auf einen Flecken rissiger Erde. Die obere Kruste zersprang unter dem Huf des schwer beladenen Tieres wie ungebrannte Keramik in tausend Stücke. Der Kameltreiber, ein hagerer, vom Kopf bis zu den nackten Füßen in indigoblauen Flor gehüllter Mann, schlug dem Tier mit einer Palmwedelpeitsche auf das Hinterteil. Das Kamel reagierte mit zwei schnellen Schritten, dann stoppte es und ächzte seinen Unmut heraus. Trotz wiederholter Aufforderungen seines Treibers ging es keinen Schritt weiter, und damit hatte sich der Fall.

      Der Mann zog seine Kopfbedeckung zurück, um sein Gesicht zu enthüllen. Seine Haut besaß die Farbe von Antilopenfell und ausgeprägte Furchen hatten sich auf seine Stirn und in die Vertiefungen seiner Wangen gegraben. Die Sonne hatte in den mehr als fünfzig Jahren, in denen er durch die Wüste gezogen war, ihren Tribut von ihm gefordert. Er sah aus wie ein ausgemergelter Achtzigjähriger, müde und vom Leben geschlagen, doch seine Augen, Teiche flüssigen Onyxes, glänzten mit einem Geist voller Vitalität und Weisheit, ganz von der Art, wie sie vonnöten war, um einen Nomadenstamm durch dieses unerbittliche Land zu führen. Er spähte zum Himmel, um sich den Stand der Sonne zu bestätigen. Sie war, wo er sie angenommen hatte: direkt über ihm. Er taxierte die Wüste um sich herum. Alles war trocken und ausgedörrt. Ausgedörrt wie die Kamele und seine Mitreiter. Die Mittagssonne sengte ohne Reue, und keine Erlösung – kein Wasser, kein Schatten – war in Sicht.

      Mit einer Hand malte er Kreise in die Luft, um die anderen Männer herbeizurufen. «Wir werden hier anhalten», sagte er zu ihnen, nachdem sie sich versammelt hatten. «Die Tiere sind müde. Sie brauchen Wasser.»

      «Aber Sheikh, es gibt kein Wasser», entgegnete einer der jüngeren Männer, dessen schmale Augen voller Zweifel waren. «Es hat schon seit vielen Monden kein Wasser mehr gegeben.»

      Der Führer legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. «So werden wir welches finden, Abu. Die Wüste ist unsere Mutter. Sie versorgt uns immer.»

      Der junge Mann widersprach seinem Ältesten nicht. Dies war die Art der Beduinen: Vertrauen und Gehorsam. Die Ältesten hatten sich als Männer von bedeutendem Charakter und großer Ehre bewährt, und als solche verlangten sie den Respekt der Familien. Hairan war das Oberhaupt des Stammes, der moralische und spirituelle Führer der Beduinen.

      Die anderen standen auf Anweisungen wartend bei dem Stammesoberhaupt. Hairan beauftragte sie, das Lager aufzuschlagen und ein Feuer zu entfachen. Dann rief er die alte Taneva herbei, um sie zu bitten, einige der Frauen zu versammeln und auf der Suche nach Wasser gen Osten zu gehen.

      Versunken in ihren schwarzen Wollgewändern, welche die für Witwen der Beduinen übliche Kleidung waren, kniete Taneva ehrfürchtig vor dem Stammesführer nieder. Sie war die älteste Frau der Sippe und so auch diejenige, die am meisten erlebt hatte, einschließlich der Geburt zweier Generationen. Von ihrer Jugend war nichts als Würde verblieben. Ihre Augen, schwarz umrandet, schwelten wie ein halb herabgebranntes Feuer. Ihre eingesunkenen braunen Lippen zeugten von Entschlossenheit. Diejenigen Haarsträhnen, die ihrem schwarzen Schleier entkommen waren, umrandeten ihr Gesicht wie Fäden von Rauchsilber.

      Hairan gebot ihr, sich zu erheben und als Ebenbürtige bei ihm zu stehen. «Vor zwei Tagen gab es Regen im Osten.» Er deutete auf ein paar hohe Sanddünen. «Hinter diesen Dünen liegt ein tiefes Tal. Sucht dort nach dem Wasser.»

      Taneva verneigte sich und zog sich zurück.

      ***

      Drei Frauen begleiteten Taneva ostwärts. Der Sand unter ihren bloßen Füßen war heiß wie ein siedender Kessel. Auf ihren Köpfen trugen sie irdene Gefäße. Sie beklagten sich nicht, sondern gingen immer weiter, wie es ihr Volk jahrhundertelang vor ihnen getan hatte.

      Eine halbe Stunde lang ertrugen sie die Unannehmlichkeit und wurden dann dafür belohnt. Genau, wie Hairan es vorhergesagt hatte, befand sich eine Wasserpfütze in einer Vertiefung im Sand. Es war nicht viel – kaum genug, um einen Tag lang vorzuhalten – und es wimmelte von Insekten. Doch morgen war ein neuer Tag und er würde so viel Hoffnung bringen wie jeder andere auch. Die Frauen knieten sich hin, um das wenige Wasser zu sammeln. Um es zu reinigen, filterten sie es durch den Flor ihrer Kopftücher.

      Von der Vorahnung getrieben, dass es mehr zu finden gab, verließ Taneva die anderen und lief auf eine weitere Senke im Sand zu. Als sie sich dem Rand der Mulde näherte, fiel ihr Blick auf etwas, auf das sie noch nie zuvor gestoßen war. Sie kniff die Augen zusammen, um einen besseren Blick zu bekommen.

      Im Sand befand sich eine Wölbung.

      Als Taneva hinuntereilte, wirbelte sie mit ihren nackten Füßen große Staubwolken auf. Dort unten war tatsächlich etwas. Etwas Unnatürliches.

      Sie näherte sich der Masse und begann, mit dem Pflichtgefühl einer Wüstenfrau, den Sand zur Seite zu wischen, um zu enthüllen, was darunter lag. Ihre Hand strich über ein grobes Gewirr, ähnlich dem Wust ihrer wollenen Stickereifäden nach einem Sandsturm. Sie zog ihre Hand zurück. Ihre Augen weiteten sich und ihr Mund bebte vor Furcht. Instinktiv sah sie sich nach Hilfe um, doch niemand war in der Nähe. Mit einem tiefen Atemzug machte sie weiter. Die Frauen der Wüste, wie auch die Männer, wendeten sich nicht von dem ab, was ihnen in den Weg gelegt wurde. Es war ihr Schicksal. Wegzugehen hieße sich den Mächten zu widersetzen, was zum sicheren Untergang führen würde.

      Tanevas Hand stieß auf etwas Hartes, eine Wölbung wie Knochen. Mit beiden Händen zog sie eine Rinne in den Sand und grub mit neuer Entschlossenheit.

      Der Kopf offenbarte sich zuerst. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Die Haut um sie herum war violett, von einem Schlag oder von Schmerzen. Das Haar war von blonder Farbe und kurz und so sehr mit Sand verkrustet, dass es an das Vlies eines längst verstorbenen Schafes erinnerte.

      Taneva schob den Rest des Sandes beiseite, um den nackten Körper eines Mannes zu enthüllen, bleich wie der Tod und in der Kindslage zusammengerollt. Sie presste beide Hände auf ihren Mund, um einen gellenden Schrei zurückzuhalten. Noch während sie neben dem Körper auf die Knie fiel, begann sie das Lied der Sterbenden als Opfergabe für die Seele des Verunglückten zu singen.

      ***

      In dieser Nacht kümmerte Hairan sich in seinem eigenen Zelt um den Fremden. Dem Vernehmen nach hätte der Mann tot sein müssen. Dank eines Wunders war er es nicht. Hairan selbst bezweifelte, dass er überleben würde, da sein Atem flach war, sein Körper geschunden und sein bewusstloser Zustand dem Tod näher als dem Schlummer. Doch als ein Beduine, ein Sheikh und ein Medizinmann, war er verpflichtet, sich um den Fremden zu kümmern, bis dieser sich entweder erholte oder den Kampf aufgegeben hatte.

      Hairan hatte den Mann auf seine eigene Matte gelegt und all seine Wolldecken über ihm ausgebreitet, um das Sinken seiner Körpertemperatur aufzuhalten. Die Haut des Fremden fühlte sich kalt und trocken an, als ob das Leben langsam schied. Der Stammesführer hatte niemals zuvor einen Mann mit Haut von der Schattierung gebleichten Knochens gesehen oder mit Haaren von der Farbe der Sonne. Es war einerlei. Wer immer der Fremde war und wo immer er hergekommen sein mochte, sie waren gleich, genau so, wie Mensch und Tier und das Korn des Wüstensands gleich waren.

      Mit der schwankenden Flamme einer alten Öllampe als einziger Orientierungshilfe platzierte der alte Mann einige Kräuter auf einem Stein und walzte sie mit seinen Fingern. Er hob eine Prise davon auf und hielt sie an seine Nase. «Nicht genug», murmelte er und fuhr fort die Pflanze zu zerdrücken, bis ihre heilenden Öle freigesetzt