Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE


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komme runter.»

      «Nein. Es ist zu gefährlich.»

      Es nützte nichts. Ejigu kletterte mit der Geschicklichkeit einer Bergziege herab.

      In der Zwischenzeit ließ Sarah sich langsam nach unten. Als sie in sicherer Entfernung war, ließ sie die Wurzeln los und sprang auf den Vorsprung, wo sie wie ein Sack Steine auf der Seite landete. Dieser letzte Sturz presste ihr die Luft aus den Lungen. Einen Augenblick lang glaubte sie, dass sie sterben würde.

      Langsam normalisierte sich ihre Atmung wieder und Sarah überprüfte den Schaden. Ihre zerrissenen Kleider waren von frischem Blut befleckt und aus ihrem linken Arm tröpfelte noch mehr Blut auf die Steine. Ihre Stirn pochte so heftig, dass sie es in ihren Fingerspitzen spüren konnte.

      Sie versuchte sich zu bewegen, doch da es zu sehr wehtat, hielt sie es für klüger, sich gegen die Felsen zu lehnen und auf Ejigu zu warten. Sie befürchtete, dass ihre Verletzungen sie davon abhalten könnten, mit der Ausgrabung fortzufahren. Dämliche Närrin, schimpfte ihre innere Stimme, du hättest es wirklich besser wissen sollen.

      Ejigu erreichte die Abbruchkante mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Seine Fähigkeiten in diesem unwirtlichen Gelände beruhigten Sarahs Verstand ein wenig und sie gestattete sich selbst die schwache Hoffnung, es vor dem Einbruch der Nacht von hier wegzuschaffen.

      «Geht es Ihnen gut, Lady?» Er schreckte zurück. «Sie sehen sehr schlecht aus.»

      «Schöntuerei hilft jetzt auch nichts mehr», sagte sie und ließ sich von ihm auf die Füße helfen. «Vielleicht hätten Sie mir sagen sollen, dass wir eine Kletterausrüstung brauchen.»

      «Entschuldigung. Entschuldigung.»

      Sarah löste das Bandana von ihrem Handgelenk und hielt es fest gegen ihre Wunde. Sobald die Blutung unter Kontrolle war, lehnte sie sich gegen einen Steinhaufen, um sich zu stabilisieren und Kräfte für den Rückweg zu sammeln. Sogar in ihrem durchgeschüttelten Zustand konnte sie nicht anders, als die Symmetrie des Gebildes zu bewundern. Die Steine vor ihr waren säuberlich gestapelt, als ob sie von den Steinmetzen der Natur in die Felswand gekeilt worden wären. Doch etwas an dem ordentlichen Muster war merkwürdig. Sie sah genauer hin, konnte es aber nicht begreifen. Sie wusste nicht, ob sie der Schmerzen wegen fantasierte und sich Dinge einbildete, aber hinter einem Wurzelgewirr befand sich etwas, das wie eine Gravur im Stein aussah: ein grober Umriss des koptischen Kreuzes vielleicht, oder eine Variation davon.

      Sarah sah zu Ejigu, der hinter ihr Kieselsteine ins Nichts warf. Dann wandte sie sich der Verzierung zu, schob ihre Hand hinter die Wurzeln, um die Oberfläche des Steins zu erreichen. Sie fuhr mit den Fingern in die Rillen des Symbols. Es war rissig, von der Zeit und den Elementen abgetragen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

      Ejigu klatschte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. «Hallo? Wir müssen bald gehen. Die Sonne wird verschwinden.»

      Er hatte recht. Die Sonne begann ihren Abstieg hinter den Bergen. In Kürze würde es dunkel sein und sie hatten noch eine gut zweistündige Wanderung vor sich.

      Während Sarah Ejigu abwärts folgte, verfluchte sie ihre Neugier auf jedem Schritt des Weges.

      ***

      In dieser Nacht, nachdem sie dem städtischen Arzt einen Besuch nach Feierabend abgestattet und mit einer Unzahl von Schmerzmitteln zum Lager zurückgekehrt war, saß Sarah vor ihrem Laptop und zeichnete das Symbol aus dem Gedächtnis nach. Jetzt war sie nicht mehr so sicher, dass es ein koptisches Kreuz war. Ungleich des Crux ansata, des symbolischen Kreuzes der koptisch-christlichen Kirche, besaß dieses zwei Kreise, einer im Inneren des anderen, und ein Kreuz, das den inneren Kreis in vier gleich große Teile dividierte. Der Stab der Kraft, die vertikale Linie, die sich von der Mitte des Kreises erstreckte, war unterbrochen. Sarah war sich nicht sicher, ob das absichtlich der Fall war oder der Erosion von möglicherweise hunderten von Jahren zugeschrieben werden musste. Sie zog ihre Online-Enzyklopädie über Symbole zurate, entdeckte aber nichts, das exakt so aussah.

      So sehr sie auch Gefallen daran fand, Dinge selbst herauszufinden, so hatte sie doch keine andere Wahl, als die Symbologen in Cambridge hinzuzuziehen. Sie scannte ihre Zeichnung ein und schickte sie per E-Mail an Stanley Simon, den Leiter der archäologischen Fakultät der Universität.

       Professor: Fand dieses Symbol eingeritzt in eine Felswand auf dem Weg nach Debre Damo. Variation des koptischen Kreuzes – oder nicht? In der gleichen Gegend befand sich ein etwas zu perfekt gestalteter Steinhaufen. Mein Instinkt sagt, er ist menschlichen Ursprungs. Plane, morgen mehr zu erkunden. Ihre Meinung? S.W.

      ***

      Unter dem Einfluss von Schmerzmitteln schlief Sarah fest bis 5:30 Uhr am nächsten Morgen. Als ihr Telefon klingelte, war sie desorientiert und hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Instinktiv nahm sie den Hörer ab und betrachtete ihn, als sei er ein außerirdisches Objekt. Sobald sie sich gesammelt hatte, konzentrierte sie sich auf die Anruferkennung: Stanley Simon. Erschrocken realisierte sie, dass sie noch immer in Aksum war und eine Stunde länger als üblich geschlafen hatte. «Professor», krächzte sie. «Ich nehme an, Sie haben meine E-Mail erhalten.»

      «Sie klingen schrecklich.» Die Stimme am anderen Ende war schroff und griesgrämig; der übliche Tonfall des Professors, wenn ihm etwas missfiel. «Sind Sie eben erst aufgewacht?»

      «Das ist eine lange Geschichte. Ich hatte gestern ein paar Schwierigkeiten.»

      «Ich bin nicht sicher, ob ich das wissen will. Was haben Sie überhaupt auf den Klippen getan? Die Grabkammer befindet sich im Tal. Oder haben Sie das vergessen?»

      «Nein, Sir. Ich meine … das war ein kleiner Abstecher. Ich bin einem Hinweis nachgegangen.»

      «Ein Abstecher? Ein Hinweis?» Seine Stimme überschlug sich. «Sarah, muss ich Sie daran erinnern, was zu tun man Sie nach Aksum geschickt hat? Ist Ihnen klar, dass Sie fünf Monate lang vor Ort sind und schon eine halbe Million Pfund von UNESCO-bewilligtem Geld verbraucht haben? Eine Menge Personen werden dieser Expedition wegen langsam unruhig. Sie wollen Ergebnisse sehen. Ich kann Sie nicht weiterhin herausreden, besonders nicht, solange Sie herumflanieren und wahllosen Hinweisen aus dubiosen Quellen nachjagen.»

      «So ist es nicht. Ich habe die Artefakte gesehen. Sie waren echt. Ich fand, dass das zu überprüfen ein paar Stunden meiner Zeit wert wäre.»

      «Junge Dame, es ist Ihnen vielleicht nicht bewusst, aber wir sind mit unserem Geldgeber ein wenig in Schwierigkeiten geraten. Die UNESCO wird sehr ungeduldig. Man will einen Berater schicken.»

      «Wie bitte?»

      «Sie haben mich verstanden. Man hat Daniel Madigan nach Aksum entsandt. Er sollte in einer Woche eintreffen.»

      Daniel Madigan – diesen Namen kannte sie. «Sie meinen diesen selbstgefälligen Amerikaner? Ist der denn nicht damit beschäftigt, in der ein oder anderen Dokumentation aufzutreten?»

      «Ob Sie das gut finden oder nicht, Dr. Madigan ist einer der führenden Gelehrten bezüglich der Region Saudi-Arabiens. Tatsächlich befindet er sich gerade mit einer Gruppe der König-Saud-Universität im Leeren Viertel, und sie kommen ausgezeichnet voran … anders als andere.»

      Sie erinnerte sich daran, die Berichte über die Arbeit des Kulturanthropologen in Qaryat-al-Fau, der antiken Stadt unter dem Sand Arabiens, gelesen zu haben. Das Projekt hatte ihm weltweites Ansehen verschafft, nicht zuallerletzt, weil er einen IMAX-Film über seine Untersuchungen produziert hatte und auch darin aufgetreten war. «Schön. Ich werde mitspielen. Aber wenn er mit einer Filmcrew auftaucht, bin ich weg.»

      «Sarah, ich bitte Sie, blamieren Sie die Universität nicht. Ich weiß, dass es für Sie schwer zu verstehen ist, aber hier steht recht viel auf dem Spiel.»

      Simons herablassender Tonfall ging Sarah auf die Nerven; sie tat ihr Bestes, um das zu ignorieren. «Professor? Ich nehme nicht an, dass Sie das Symbol überprüft haben, das ich Ihnen geschickt habe?»

      «Natürlich habe ich es überprüft. Die Jungs von der Theologie halten es ganz und gar nicht für ein Crux