Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE


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Ein Ideogramm, das wie ein in den Stein geschlagenes koptisches Kreuz aussah, direkt neben einem Steinhaufen. Ich habe Dr. Simon sofort eine E-Mail geschickt. Er schalt mich dafür und sagte, ich solle mich darauf konzentrieren, den Eingang zur Grabstätte zu finden, weil UNESCO ungeduldig würde. Und, wie Sie genau wissen, halten die die Fäden in der Hand.»

      «Und trotzdem haben Sie sich ihnen widersetzt.»

      «Lassen Sie das doch nicht so verbrecherisch klingen. Ich weiß, dass da oben etwas ist. Ich bin Archäologin. Ich kann nicht wegschauen. Ich muss meinem Instinkt vertrauen.»

      Er lächelte. «Und vermutlich denken Sie, dass ich das nicht nachempfinden kann.»

      «Ich habe keine Ahnung, was ich denken soll. Wie Sie schon angemerkt haben, weiß ich überhaupt nichts über Sie. Außer dem, was ich im Fernsehen sehe.» Diesen Seitenhieb konnte sie sich nicht verkneifen.

      «Was hatten Sie mit dem Seil vor?»

      «Wir haben einige Felsen entfernt und einen Schacht freigelegt – den Eingang zu etwas, das ich für eine Höhle halte. Ich hatte vor, hineinzugehen.» Sie blickte zum Himmel. «Ach, was nützt das jetzt noch? Wir haben schon zu viel Tageslicht verloren.» Über Funk gab sie ihrer Crew die Anweisung, für heute Schluss zu machen.

      Daniel ging mit Sarah zum Jeep zurück und half ihr, die Ausrüstung einzupacken. «Wissen Sie, ich bin so etwas wie ein Höhlenexperte. Ich habe einen großen Teil meiner Karriere damit verbracht, sie zu erforschen. Im Leeren Viertel, auf der Suche nach den Ruinen einer Stadt. Ich würde morgen gerne mit Ihnen kommen.»

      Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen. Er hob die Hand. «Ich bestehe darauf. So wie ich das sehe, haben Sie keine andere Wahl, als mir zu vertrauen.»

      ***

      Sie starteten bei Sonnenaufgang. Mit dem Seil sicher um ihre Hüfte gebunden schob Sarah sich durch die schmale Öffnung.

      Daniel folgte ihr. «Ich wusste, dass ich das zweite Stück Toast nicht hätte essen sollen», scherzte er mit dem Gesicht an den Felsen gepresst.

      Sarah pflegte nicht zu lachen. Sie war von der ernsten Sorte, was immer auch geschah. Oft nannten ihre Kollegen sie «Stony», und sie nahm das als Kompliment.

      Sobald die beiden drinnen waren, schalteten sie ihre Stirnlampen an, um die Dunkelheit zu erhellen. Das Licht flimmerte über die Höhlenwände und warf Schatten auf die unebene Oberfläche der röhrenartigen Kammer. Mit ausgestreckten Händen konnten sie die Decke und die Wände zu beiden Seiten berühren. Der Stein war brüchig und kalkhaltig und nach Sarahs Meinung fühlte er sich wie getrockneter Lehm an, was ihr seltsam erschien, da die Berge größtenteils aus Granit waren.

      Während sie sich weiter vorwagten, verengte sich der Tunnel und sie mussten sich in Knien und Hüften zu halber Größe beugen. Der Moder und die grässliche Schärfe längst verwesten Fleisches überwältigten Sarah. Der Geruch des Todes. Hatte hier jemand gelebt? Oder war es schlicht ein längst verlassener Tierbau?

      «Dort drüben …» Daniel zeigte auf eine schmale, ringartige Öffnung.

      «Goldrichtig. Das könnte der Schacht sein, den wir gesucht haben.»

      «Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Lassen Sie mich zuerst gehen. Nur für den Fall, dass da drinnen etwas nicht in Ordnung ist.»

      «Wohl kaum», sagte sie, während sie ihn zur Seite schob. «Als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, war ich immer noch die Leiterin dieser Expedition. Das heißt, dass ich das Sagen habe.»

      Er ließ das Thema fallen. «Wie Sie wünschen. Ich wollte nur vermeiden, dass Sie Ritterlichkeit für ausgestorben halten.»

      Sarah robbte sich durch die Öffnung, wobei sie sich mit ihren Armen vorwärts zog. Der Stein fühlte sich kalt und rau an ihrem Körper an und der Gestank von Verwesung und verkohlter Erde nahm zu, je weiter sie vordrang. Sie kämpfte darum, den Würgereiz zu ignorieren, aber noch schwerer war es, den mangelnden Sauerstoff zu ignorieren. Es fühlte sich an, als würde ihre Lunge von einem Schraubstock zusammengepresst, wodurch jeder Atemzug zu einer Anstrengung wurde. Hinter ihr rief Daniel: «Und? Können Sie das Licht am Ende des Tunnels sehen?»

      «Nein. Kein Licht», gab sie mit gepresster Stimme zurück. «Aber passen Sie auf. Vor uns liegt eine ziemliche Kurve.»

      Der Tunnel wandte sich nach rechts, wo er schließlich breiter wurde. «Ich glaube, wir nähern uns einer Öffnung. Sie scheint gleich hier zu sein.»

      «Können Sie etwas sehen?»

      «Es ist stockfinster. Warten Sie. Was ist das?»

      «Was? Was denn?»

      «Der Gang fällt senkrecht nach unten ab.»

      «Da haben Sie Ihren Schacht. Solche habe ich schon hundert Mal gesehen und sie können eine schlechte Nachricht sein. Sehen Sie sich vor.»

      «Es ist der einzige Durchgang. Ich werde reingehen.»

      «Sarah, ich meine das jetzt ernst. Seien Sie sehr vorsichtig.»

      «Wozu die Sorge? Wir sind gesichert.» Sie schob sich in den Schacht. «Los geht’s. Ich versuche, mich abzuseilen.» Sie stieg hinab, indem sie das Seil in einer Hand festhielt und mit der anderen Halt am Felsen suchte. Ihre Füße benutzte sie, um die Breite des Durchgangs unter sich zu bestimmen.

      Als die Wände wichen und ihre Füße im Nichts baumelten, wusste sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. «Okay», rief sie. «Lassen Sie mich nach unten.»

      Sie hatte keine Ahnung, wie tief unten war oder wo sie landen würde. Soviel sie wusste, könnte es Wasser sein, eine verfaulende Rattengrube oder ein vor Kakerlaken wimmelnder Berg von Fledermauskot.

      Zu ihrer Erleichterung berührten ihre Füße nach einem kurzen Abstieg festen Boden. Sie sah sich um und stellte fest, dass sie sich in einer Höhle befand. Sie strich mit der Hand über den Stein. Er war unnachgiebig und hatte raue Kanten, übereinstimmend mit der Beschaffenheit von Granit.

      «Da unten alles in Ordnung?», erklang Daniels Stimme schwach vom oberen Ende des Schachts.

      «Irgendetwas ist definitiv ungewöhnlich», rief sie. «Der Stein ist ganz anders. Ich glaube, dass diese Höhle irgendwann versiegelt gewesen sein muss.»

      Während Daniel herabstieg, bestaunte sie die natürlichen Wellenformen und Streifenbildungen der Evolution des Bodens über Äonen hinweg. Die Veränderungen in der Erdkruste zu beobachten, war eines der Dinge, die sie an ihrer Arbeit liebte. Die Steine sprachen mit ihr, erzählten ihr von Ordnung und Widerstreit, Licht und Schatten, Leben und Tod.

      Sie atmete tief ein. Definitiv verbrannte Erde. Sie bewegte ihr Licht umher und hielt inne, als sie eine Stelle von Feuer geschwärzten Steins sah. Das war nicht besonders ungewöhnlich. Schafhirten und Nomaden entzündeten oft Feuer in Höhlen, um sich warmzuhalten – allerdings nur bei guter Belüftung. Dies war ein weiterer Hinweis darauf, dass die Höhle einmal offen gewesen und später absichtlich versiegelt worden war. Aber warum?

      Sie kratzte etwas von dem angesengten Stein in eine Plastiktüte und sah sich weiter um. Ihr Blick blieb an der Kante einer hölzernen Truhe hängen, die mit dicken, verrosteten Eisennägeln verschlossen war.

      Daniel löste sich vom Seil. «Was haben Sie?»

      Sie beleuchtete mit ihrer Taschenlampe der Länge nach ihren Fund. «Einen Sarg.» Sie sah zu ihm auf. «Das ist keine Höhle. Es ist eine Gruft.»

      «Hat Sinn. Das Symbol draußen, der Haufen Steine … jemand hat ganz offensichtlich versucht, etwas zu beschützen.»

      «Oder es zu verstecken.» Sie ließ ihre Hand über das Holz gleiten. Ein Splitter bohrte sich in ihre Handfläche und sie zog die Hand nach oben. Sie ignorierte das Brennen. «Akazie.» Nach aksumitischer Tradition wurden nur Arme und Asketen in Akazienholzsärgen begraben. Was von beidem lag im Inneren?

      «Etwas steht auf den Deckel geschrieben.» Daniel kniete sich hin. «Sagen Sie, wie gut