Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE


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Sie wollen ihre kostbaren Inschriften nicht in unsere Hände fallen sehen.»

      Sarah studierte Daniels Gesicht. Im schwachen Lampenlicht leuchteten seine Augen bernsteinfarben, zeugten von einem leidenschaftlichen Verstand. Sie erkannte in ihm dieselbe Hingabe zur Pflicht, die sie selbst auch besaß. Es beeindruckte sie und ließ sie ihre Verteidigung gerade so weit aufgeben, um sich den Gedanken zu erlauben, dass er auf ihrer Seite sein könnte.

      «Apropos Inschriften … konnten Sie herausfinden, mit welcher Sprache wir es zu tun haben?»

      «Es ist definitiv Semitisch, aber ich kann den genauen Dialekt nicht zuordnen. So viele semitische Dialekte sind in verschiedenen Teilen Arabiens über eine Zeitspanne von tausend oder mehr Jahren hinweg gesprochen worden. Wir könnten alles vor uns haben. Aber hier ist der Teil, den ich nicht verstehe: Wie ist eine unbestimmte semitische Sprache von der anderen Seite des Roten Meeres hierhergekommen? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr befürchte ich, dass wir Rada Kabede brauchen.»

      «Wer ist das?»

      «Ein Sprachgelehrter in Addis. Ich habe an einem Projekt in Ägypten mit ihm zusammengearbeitet. Aufgewecktes Kerlchen. Ich weiß nicht, ob er eine schnelle Übersetzung aus dem Ärmel schütteln kann, aber er kann uns zumindest die richtige Richtung weisen.»

      «Vertrauen Sie ihm?»

      «Vertrauen Sie irgendwem in Afrika?» Daniel zwinkerte ihr zu. «Ich kenne Rada seit Jahren. Mein Bauch sagt mir, dass er einer der Guten ist.»

      «Ihr Bauch?»

      «Wir sind vielleicht Wissenschaftler, aber in diesem Beruf gibt es keinen Ersatz für Instinkte. Das wissen Sie genauso gut wie ich.»

      Sarah nickte. Sie widersprach dem nicht; es war nur so, dass ihr Instinkt ihr etwas anderes sagte. Trotzdem war Daniels Vorschlag sinnvoll. Jeder Hinweis wäre die Mühe eines Ausflugs nach Addis wert. Abgesehen davon brauchte sie eine Auszeit von dieser Gegend. «Okay, ich bin dabei.»

      ***

      Durch den Schleier ihrer Erschöpfung hindurch erschien Sarah die Straße nach Addis wie ein endloses Band ausgedörrter Erde. Die Monotonie der Umgebung und die gleichmäßige Vibration von Daniels Cruiser hatten die Wirkung eines Sedativums. Während sie die nördliche Küste des Tanasees passierten – der legendären Quelle des Nils – ließ sie die Landschaft auf sich wirken. Die nebelverhangenen Inseln, die auf der flüssigen Endlosigkeit lila-grauen Gewässers trieben, erinnerten sie an himmlische, auf Reispapier gemalte Aquarelle. Eine kleine Flotte roter Boote brachte Lebensmittel von einem Ufer zum anderen. Ein hartnäckiger Fischer stand am Bug seines Schiffes und warf sein Netz aus, störte die Stille des Sees. Die unbeschwerte Szene wog Sarah in Schönheit und sie ergab sich der Schwere des Schlafs.

      Sie wachte auf, als ihr Kopf gegen das Beifahrerfenster schlug, scheinbar, weil der Cruiser ein besonders übles Schlagloch erwischt hatte. Der Himmel war stahlgrau und wolkenverhangen und der Regen schlug wütend auf den Boden ein. Gut fünfzehn Zentimeter Wasser stand auf den Straßen, wie es in Äthiopien dank der fragwürdigen Entwässerungssysteme, welche die Italiener während der Besatzung installiert hatten, oft der Fall war.

      «Willkommen in Addis», sagte Daniel. «Ein wunderschöner Tag.»

      Sarah spähte durch die Düsternis und musterte die Hauptstadt. Die Alleen wurden von hohen Betongebäuden monolithischer Architektur gesäumt, inspiriert von den unscheinbaren Baustilen der Sowjetzeit. Beinahe alle waren schmutzig und schrien nach Reparaturen, ein Beweis für die einheimische Laissez-faire-Attitüde Besitztümern gegenüber. Diese Gebäude standen dort, um eine Unterkunft oder einen Arbeitsplatz zu bieten, solange das Dach halten würde. Wartung war eine Verschwendung wertvoller Zeit, die für das Schlürfen von Kaffee und dem Tratschen mit Freunden verwendet werden konnte, oder (noch besser) damit, die Langweile zu verschlafen.

      Die Menschen wirkten ähnlich unordentlich. Unternehmer trugen ausgeblichene marineblaue Anzüge, die mindestens eine Nummer zu groß waren und herabhingen wie die Kleider eines Vaters am Körper seines dünnen Halbwüchsigen. Frauen, die ihre Kleinkinder in Tüchern trugen, kauerten auf den Gehsteigen unter Schirmen, während ganze Kofferraumladungen von Waren vor ihnen auf alten Decken oder Plastikmatten ausgebreitet lagen. Sie verkauften ein Durcheinander an Dingen: Zu ordentlichen Pyramiden gestapelte Orangen, Batterien, Kofferschlösser aus der Vorkriegszeit, filterlose grüne Zigaretten, die zu winzigen Bündeln zusammengebunden waren, Milchkekse, französische Comicbücher, billige Baumwollunterhosen.

      Daniel parkte auf dem Bürgersteig, so wie es jeder andere auch tat.

      Im Regen liefen die beiden mehrere Straßenblöcke weit zum Restaurant Fasil Ghebbi, wo Rada Kabede sie zu einem späten Mittagessen treffen würde. Das traditionelle Lokal befand sich in einem baufälligen Vorkriegsgebäude im Marktbezirk der Stadt. Risse in der Fassade deuteten auf seismische Aktivitäten hin. Einschusslöcher in den Außenwänden, von Unruhen, Bürgerkriegen, oder einer Kombination aus beidem hervorgebracht, verwiesen auf die – teilweise nicht allzu ferne – turbulente Vergangenheit des Landes. Sarah verspürte eine Verbundenheit mit dem Gebäude: angeschlagen, aber dennoch robust genug, um stehen zu bleiben, mit glanzvollen Hinweisen auf eine prächtige Vergangenheit. Sie und Daniel traten durch eine riesige Holztür, die schräg zur Hauptstraße an der Ecke angebracht war.

      «Willkommen im Fasil Ghebbi», sagte ein Mann in einem makellos weißen Tibeb, der traditionellen äthiopischen Tracht bestehend aus einer Tunika, engen Hosen und einem um die Taille gebundenen Schal. «Sie sind mit jemandem verabredet, richtig?»

      «In der Tat. Führen Sie uns hin, mein Freund», sagte Daniel.

      «Folgen Sie mir.» Der Wirt verneigte sich und trat dann durch eine gewölbte Öffnung, die von zu Girlanden gedrehten roten Samtvorhängen eingerahmt war.

      Der Speiseraum war voller Rauch und so laut wie die Basare Kairos oder Istanbuls. Die Kakofonie aus schallendem Gelächter, Geplapper und dem Klirren von Gläsern erschien Sarahs Ohren nach den letzten Stunden verhältnismäßiger Stille geradezu frevelhaft, aber die Gerüche von Gewürzen und starkem Tabak weckten ihre Sinne. Exotische Orte erfrischten sie, ließen sie sich lebendig fühlen. Obwohl ihre beiden Gesichter die einzigen weißen in der Menge waren, war sie augenblicklich zu Hause und durchquerte den Speiseraum mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der in diesem Augenblick dorthin gehörte.

      Rada erhob sich von seinem Platz an einem niedrigen Tisch und eilte mit ausgestreckter Hand auf seinen alten Freund zu. Seine Lippen öffneten sich weit, um zwei schöne Reihen weißer Zähne zu enthüllen. Rada war Ende dreißig, aber seine straffe Haut ließ ihn gut zehn Jahre jünger aussehen. Er trug eine Brille mit schwarzen eckigen Rändern und dicken Gläsern, die seine Augen wie zwei winzige Obsidianmurmeln erscheinen ließen. Obwohl er das Aussehen eines ernst zu nehmenden Akademikers hatte, war sein Verhalten das eines aufgeregten Schuljungen.

      Die beiden Männer klopften sich auf den Rücken, während sie einander leicht umarmten.

      «Darf ich dir meine Kollegin Sarah Weston vorstellen?» Daniels Hand ruhte auf ihrer Taille, als er sie und Rada miteinander bekannt machte.

      Es fühlte sich merkwürdig an, von ihm berührt zu werden, selbst wenn es eine harmlos vornehme Geste war.

      «Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen, junge Dame. Bitte» – Rada deutete zum Tisch – «nehmen Sie Platz.»

      Sie setzten sich auf niedrige Hocker. Rada erhob drei Finger in Richtung eines Kellners und wandte sich dann an Daniel. «Erzähl mir, mein Freund, was dich nach Äthiopien bringt.»

      Daniel schüttelte den Kopf. «Arbeit, fürchte ich. Nichts Interessanteres als das.»

      «Tja, wenn es unserem letzten Abenteuer auch nur entfernt ähnelt, dann sollte es sehr wohl recht interessant sein.»

      Der Kellner kehrte mit drei Flaschen St. George Bier zurück.

      Rada rasselte eine lange Bestellung auf Amharisch herunter und wandte sich anschließend an Sarah. «Als wir in Ägypten waren, hatte er einen Teil von uns auf eine Safari mitgenommen, um den seltenen nubischen Steinbock