Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE


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Sie versuchte sich an einer Übersetzung. «Ein paar der Worte erkenne ich wieder. Das hier bedeutet Licht. Dieses ist das Verb sein.» Sie schüttelte den Kopf. «Ich fürchte, das ist alles, was ich weiß. Aber es wird nicht schwer zu übersetzen sein.»

      Sie zog eine Digitalkamera aus ihrer Tasche und fotografierte sowohl den eingeschnitzten Text als auch den Sarg aus verschiedenen Winkeln. Das geisterhafte blaue Licht des Kamerablitzes wurde von den Wänden zu einem Gewittersturm reflektiert. Sie machte Weitwinkelaufnahmen von der Länge und Breite des Sargs und zoomte an jedes Detail heran, von der Maserung des Holzes bis hin zu den rostigen Nagelköpfen, die es versiegelten. Als sie Letztere fotografierte, hielt sie inne und senkte die Kamera. «Das ist sehr merkwürdig», sagte sie ebenso sehr zu sich selbst wie zu Daniel, der gerade die Maße des Sargs nahm. «Sehen Sie sich das mal an.»

      Daniel steckte das Maßband in seine Tasche und ging zu ihr. «Da sind Löcher neben den Nägeln.» Er klang überrascht.

      «Richtig. Was bedeutet, dass der Sarg schon einmal geöffnet wurde.»

      «Plünderer.»

      «Vielleicht …» Sie war skeptisch.

      «Woran denken Sie?»

      Ihr Verstand machte sich auf die Reise zum Symbol vor dem Eingang zur Höhle. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass dieselbe Person, die den Sarg geöffnet hatte, auch das Grab versiegelt und das Ideogramm in den Stein gemeißelt hatte. Aber der Gedanke hatte noch keine rechte Form in ihrem Kopf angenommen und so entschied sie sich dafür, ihn überhaupt nicht auszusprechen. Stattdessen sagte sie das Offensichtliche. «Es ist nur so, dass dies hier ganz eindeutig der Sarg eines Armen ist. Was gibt es da zu plündern?»

      «Oh, Sie wären überrascht. Selbst die Allerärmsten hatten irgendwelche Habseligkeiten. Ein Messer, ein einfaches Metallkreuz. Schon das alltäglichste Objekt wäre für diese Gauner von Wert.» Er richtete seine Taschenlampe auf die Hohlräume hinter dem Sarg. «Ich wette, da ist etwas …»

      «Was?» Sarah konzentrierte sich und wandte ihren Blick zu der Stelle, die von Daniels Licht beschienen wurde. Ihr Mund öffnete sich. Ein paar Sekunden lang vergaß sie zu atmen. Die gesamte innere Wand war mit in den Stein geritzten Schriftzeichen übersät. Die Symbole waren ihr gänzlich unbekannt und wirkten willkürlich gezeichnet, als wäre der Autor in Eile gewesen. Obwohl sie kein Wort der Inschrift verstand, konnte sie dennoch die tiefe Angst darin spüren. «So etwas habe ich noch nie gesehen», flüsterte sie.

      Daniel untersuchte die Zeichen. «Die Schrift ist semitischer Art. Irgendeine Form von Dialekt. Ich habe ähnliche Wandzeichnungen auf Merksteinen in Arabien gesehen.»

      «Könnte es eine religiöse Inschrift sein?»

      «Unwahrscheinlich. Sie ist sehr einfach. Sehen Sie, wie die Zeichen sich nach unten neigen, fast eine Spirale bilden. Religiöse Inschriften sind üblicherweise eleganter, formaler.»

      Sarah zog etwas Florpost und Zeichenkohle aus ihrem Rucksack und pauste die Zeichen ab.

      Mit einem Lachen stellte Daniel ihre Methode infrage und erinnerte sie daran, dass Fotos ein genaueres Bild der Schrift liefern würden, aber sie wollte eine physische, greifbare Aufzeichnung der Felsgravierungen, nicht nur Fotografien. Es wirkte realer für sie, näher an der Intention des Schreibers. Dies war eine ihrer Marotten und sie rechtfertigte sich nicht dafür.

      «Wir sollten von hier verschwinden. Die Luftqualität verschlechtert sich.»

      Es gab keine Öffnung, die groß genug war, als dass Luft durch die Höhle hätte zirkulieren können. Sie hatten den wenigen Sauerstoff fast verbraucht, der hier gewesen war. In der Tat war es an der Zeit, zurückzugehen, aber Sarah war nicht bereit dazu.

      «Gehen Sie vor. Ich bin hier noch nicht fertig.» Sie richtete die Krempe ihrer Mütze auf die Höhlenzeichnungen, während sie beschrieb, was sie sah. «Inschriften bedecken achtzig Prozent der inneren nördlichen Höhlenwand. Zeichen, möglicherweise übereinstimmend mit einer semitischen Sprache.»

      «Was tun Sie da?»

      Sie legte ihren Zeigefinger auf die Lippen, um ihn um Ruhe zu bitten, und deutete dann auf eine Stiftlampe unter der Kante ihrer Hutkrempe.

      «Eine Videokamera», flüsterte er. «Das nenne ich genial.»

      Sie griff wieder unter die Krempe und schaltete die Kamera aus. «Ich war es leid, eine Videokamera mit mir herumzuschleppen, also habe ich die hier entworfen und von unserem technologischen Institut herstellen lassen. Sie ist ziemlich nützlich an engen Plätzen oder wenn man sich das Zusatzgewicht nicht erlauben kann. Und sie kann Daten ans Intranet von Cambridge senden. Brillant, nicht wahr?»

      «Haben Sie ein Patent auf dieses Ding? Jeder in der Branche wird nämlich eins haben wollen. Betrachten Sie meine Bestellung als aufgegeben.»

      «Hier ist noch etwas anderes, das Ihnen gefallen könnte.» Sie hob ihr linkes Handgelenk in die Höhe. «Sehen Sie diese Timex? Sie steckt eine Tracht Prügel ein und nimmt trotzdem weiter auf.»

      «Sprachaufnahmen?»

      «Ja, genau. Die besitze ich schon seit Ewigkeiten. Jetzt, wo ich die Kamera habe, benutze ich sie nicht so oft. Aber ich behalte sie, weil ich nie wissen kann, ob ich sie mal brauchen werde.» Sie drückte dreimal auf den oberen Knopf, um ein Aufnahmemenü anzusteuern. Das Ziffernblatt zeigte einen digitalen Bildschirm mit den üblichen Aufzeichnungsoptionen und Sarah drückte auf einen anderen Knopf, um zu demonstrieren, wie die Uhr funktionierte.

      «Ihr Briten und eure Gadgets.» Daniel lachte. «Und ich habe James Bond für Fiktion gehalten.»

      Sie schüttelte den Kopf und schaltete die Kamera wieder ein, um die Höhle und sämtliche Wände für eine visuelle Aufzeichnung abzuscannen. Selbst als ihre Atmung schwerfällig wurde, arbeitete sie weiter. Sie brachte immer zu Ende, was sie angefangen hatte, ungeachtet der Bedingungen. Das lag in der Natur des Berufes: Man nahm alles mit, was man beim ersten Mal bekommen konnte, weil es niemals eine Garantie auf eine zweite Chance gab.

      Sie hörte erst auf, als ihr schwindlig wurde und sie sich an der Granitwand abstützen musste. Wenn sie jetzt nicht ginge, dann brächte sie die Kraft für den Aufstieg nicht mehr auf. «Zeit zu gehen», sagte Daniel, während er ihren Klettergurt ans Seil klemmte. «Ich lasse kein Nein als Antwort gelten.»

      Sarah nickte. Dann zog sie sich durch den Schacht nach oben, wobei sie absichtlich hyperventilierte, um den Luftstrom zu ihrer Lunge hin zu vergrößern und das Kohlenstoffdioxid schneller auszustoßen. Während sie auf den Ausgang zu krabbelte, fühlte sich ihre Brust an, als wäre sie unter einem Fünfzig-Pfund-Gewicht eingeklemmt. Obwohl Sarah nichts mehr begeisterte, als in einer Grabkammer zu sein, sehnte sie sich nach der Außenwelt.

      Als sie endlich den Höhlenausgang erreichte, keuchte sie schwer. Während sie darauf wartete, dass Daniel auftauchte, zog sie das Bandana von ihrem Kopf und benutzte es, um sich über die Augen zu reiben, welche von Schweiß und Schmutz brannten.

      Als sie ihre Augen wieder öffnete, erblickte sie eine Gestalt auf der Abbruchkante – einen alten Mann mit ledriger schwarzer Haut, weiß gekleidet und mit mehrfach um den Kopf gewickelten Streifen weißen Flors. Seine nackten Füße waren schwielig und rau wie die Stämme der alten Kossobäume. Ein Kreuz aus geflochtenem Leder hing ihm um den Hals.

      «Wer sind Sie?», fragte Sarah.

      Die Stimme des alten Mannes war zittrig, als er auf Amharisch mit ihr sprach. «Sie sollten nicht hier sein. Sie bringen Unheil über diesen Ort.»

      «Wir sind Archäologen», sagte sie auf Amharisch. «Wissenschaftler. Wir haben eine Genehmigung, um hier zu sein.» Sie griff auf der Suche nach einer Kopie der Expeditionsgenehmigung in ihre Tasche.

      «Sie haben nicht Gottes Genehmigung. Sie müssen sofort gehen oder die Konsequenzen tragen. Er beobachtet Sie.»

      «Entschuldigung – wer beobachtet mich?»

      Doch der Mann belohnte ihre Frage nicht mit einer Antwort. Er spie vor ihr auf die Erde und erklomm dann mit überraschender Geschicklichkeit