Daphne Niko

DER ZEHNTE HEILIGE


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des himmlischen Herrn geheiligt wurde, mit den höchsten Ehren und Privilegien zur letzten Ruhe gebettet wird, da er das Leben König Ezanas, König aller Könige, Herrscher über Aksum und das gewaltige Imperium, gerettet hat. Möge seiner Seele vergeben werden und er vom Herrn der Erde und des Himmels und aller heiligen Dinge ins himmlische Königreich aufgenommen werden. Diesen Grabstein habe ich errichtet im Namen des himmlischen Herrn, und wer ihn entstellt oder entfernt, dessen Geschlecht soll vom Angesicht der Erde ausgelöscht werden.» Matakala hielt inne und sah Sarah an.

      Sie fixierte weiterhin die Worte. «Sie sagten, diese Stele war nahe unserer Ausgrabung? Wo ist sie jetzt? Ich würde sie gerne sehen.»

      «Leider befindet sie sich in privater Hand. Sie wurde vor vielen Jahren von Räubern aus Äthiopien gestohlen und auf dem Schwarzmarkt an einen deutschen Sammler verkauft. Keiner wusste, wo sie war, bis er starb und sein Besitz versteigert wurde. Wir versuchten, sie zu erwerben, wurden aber von einem anonymen Sammler überboten. Diese Fotos konnten wir vom Auktionshaus bekommen.»

      «Ich schlage vor, Sie sagen mir, warum Sie mich hergebeten haben.»

      «Es ist … kompliziert.» Matakala schien seine Worte abzuwägen. «Sind Sie ein Mensch des Glaubens, Doctor?»

      «Ich bin Wissenschaftlerin. Ich glaube an das, was ich sehen, hören und anfassen kann.»

      «Dies ist eine Glaubensangelegenheit. Ich will versuchen, es einfach auszudrücken. Wie Sie vielleicht wissen, kennt unsere Religion neun Heilige – die Tsadkan, oder die Rechtschaffenen. Dies sind die frommen Männer, die in unserem Land die Lehre des Christentums verbreitet und Klöster gebaut haben. Doch laut koptischem Mystizismus gab es einen zehnten Heiligen. Bevor wir die Inschrift auf der Stele sahen, hatten wir keine Beweise dafür. Dort ist es in Stein gemeißelt: Der Mann, auf den sich die Stele bezieht, wurde gut ein Jahrhundert, bevor auch nur einer dieser neun Männer unser Land durchwanderte, von der äthiopischen Kirche heiliggesprochen.»

      Sarah unterbrach ihn. «Was wissen Sie über diesen zehnten Heiligen?»

      «Der Legende nach war er kein Äthiopier; er kam aus dem Westen. Das ist eine Vermutung, aber es ist alles, was wir haben.» Er beugte sich vor. «Dr. Weston, wir brauchen Ihre Hilfe.»

      Sarah wusste, was kommen würde. Sie biss die Zähne zusammen und ließ ihn sprechen.

      «Wir glauben, dass das, was Sie gefunden haben, das Grab unseres zehnten Heiligen ist.» Sein Blick verhärtete sich. «Ich kann die Bedeutung dieser Person für unsere Religion nicht genug betonen. Wir …» Er legte seine locker geschlossene Faust an seine Lippen. «Lassen Sie mich das anders ausdrücken. Als Gast unserer Regierung haben Sie gewisse Rechte. Niemand bestreitet das. Wir sind darauf vorbereitet, Ihnen staatlich subventionierte Arbeitskräfte zu bewilligen, um Ihre Ausgrabung der königlichen Nekropolis zu beschleunigen, aber wir müssen darauf bestehen, dass dieser spezielle Fund dem Ministerium übergeben wird.»

      Obwohl Sarahs Gesicht brannte, sprach sie ruhig. «Vorausgesetzt ich kooperiere, was wird das Ministerium damit tun?»

      «Der Heilige gehört in die geweihte Erde des Berges Debre Damos. Wir beabsichtigen, ihn in seine Grabstätte zurückzubringen und die Gruft zu versiegeln. Dann werden wir alles der Kirche übergeben. So lauten die Wünsche unseres Bischofs und wir sind verpflichtet, diesen nachzukommen.»

      «Und die geschichtlichen Aufzeichnungen auszulöschen», sagte sie mit einem ironischen Lächeln.

      «Mir ist bewusst, dass das nicht die Art des Westens ist, Doctor. Aber so werden die Dinge in Äthiopien gehandhabt.»

      «Und wenn ich mich weigere?»

      «Das empfehle ich Ihnen nicht. Es wäre unklug, die sich im Spiel befindlichen Mächte herauszufordern.»

      «Mr. Matakala, zuerst einmal fordere ich niemanden heraus. Es ist mein absolutes Recht, hier zu sein.» Der Augenblick fühlte sich surreal an, als ob jemand anderes durch sie sprach, während sie dabei zusah, wie die Szene entstand. «Zweitens gilt meine erste und einzige Verpflichtung der Wissenschaft. Es ist mein Beruf, falls Sie das nicht wussten, antike Geschichte anhand von Überresten wie diesen zu erforschen und zu dokumentieren. Es ist mir egal, ob das betreffende Grab das von Jesus Christus höchstselbst ist. Das würde mich nicht davon abhalten, die Wahrheit ans Licht zu bringen; es würde mich dazu verpflichten. Sehen Sie, Mr. Matakala, genau wie Sie glauben, dass die Frommen ein Recht darauf haben, ihren heiligen Mann in Stillschweigen begraben zu lassen, so glaube ich, dass die Menschen ein Recht darauf haben, ihre Vergangenheit zu kennen. Daher würde ich sagen, steht Ihr Wille gegen meinen.»

      «Seien Sie vorsichtig, Doctor. Sie wissen nicht, mit wem Sie es zu tun haben.»

      «Ist das eine Drohung?»

      «Ich schlage vor, dass Sie über unser Ersuchen nachdenken – zumindest wenn Sie weiterhin in Äthiopien arbeiten wollen.»

      Sarah nickte und strebte zur Tür.

      «Oh, Dr. Weston?», rief Matakala. «Haben Sie dies hier schon einmal gesehen?»

      Sarah hielt inne und holte tief Luft. Sie drehte sich zu ihm um.

      Das Ideogramm von der Grabstätte füllte die Projektionsleinwand aus.

      Gegen eine Springflut von Emotionen ankämpfend versuchte Sarah, eine ausdruckslose Miene zu bewahren.

      «Dies ist das Symbol einer alten religiösen Bruderschaft. Seine Mitglieder werden vor nichts Halt machen, um das Ihre zu beschützen.»

      Sie sah ihm in die Augen.

      Matakala schloss den Laptop. «In dieser Gegend bekommen die Menschen nur eine Warnung. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich sie nicht verschenken.»

      Fünf

      Die Tage kommen und gehen, die Winter weichen den Frühlingen, und Hungersnöte fordern die Leben der Schwachen, doch das Stammesleben dauert fort, wie es das immer getan hat, ernstlich und ohne Umschweife. Es ist die Art der Nomaden, alles so hinzunehmen, wie es kommt. Es gibt keine Erwartung besserer Zeiten, keine Sehnsucht nach dem Unerwiderten, keine Verzweiflung über Verlust. Die alltägliche Existenz ist auch ohne solche Erschwernisse hart genug. Egoismus ist ein Luxus, den sich die Nomaden nicht leisten können; nicht, solange es Ziegen zu melken gibt, Schafe zu scheren, Kamele zu satteln, Brot zu backen, Kinder zu füttern, Decken zu weben, Nachthimmel zu deuten, Jahreszeiten zu bestimmen, Musik am Lagerfeuer zu spielen.

      Die Tage vergehen zumeist ohne Ereignisse, zumindest ohne solche, die die geheiligte Routine stören würden. Die Männer und Jungen verbringen jede Tageslichtstunde damit, das Vieh ans Wasser und zu Gras zu führen und sich satt fressen zu lassen, und sie wissen nicht, was der nächste Tag bringt. In der Wüste ist Weideland rar, doch der Beduine weiß den Sand zu bereisen, um verirrte Flecken von Leben zu finden, oder vollendete Oasen, wo Flüsse fließen, Ebenen fruchtbar sind und Palmen Datteln tragen. Sie verweilen nicht lange, gerade lange genug, um die Kräfte der Tiere zu stärken und ihre eigenen Vorräte aufzufüllen. Das Gesetz dieses unwirtlichen Landes ist ungeschrieben, wird aber respektiert: Jeder vorbeiziehende Stamm zehrt maßvoll und ermöglicht es dann den Ressourcen, sich für die Nachkommenden wieder zu regenerieren. So wird es seit Jahrhunderten getan und niemand stellt es infrage. Gier ist ein ernster Verstoß hierzulande. Der Sheikh eines jeden Stammes, der das Gesetz bricht, wird von den Beraubten gejagt und verschiedentlich gedemütigt, geplündert oder geschlagen, abhängig vom Ausmaß seines Verstoßes.

      Die Frauen haben ihre eigenen Verpflichtungen. Im Morgengrauen sammeln sie das tägliche Wasser zum Kochen, Trinken und Waschen. Am Morgen bereiten sie das Essen für ihren Goum – die Familie eines Beduinen – zu und lassen es in bedeckten Schüsseln stehen, bis die Männer aus den Ebenen kommen. Abhängig von der Großzügigkeit des Tages kann die Mahlzeit etwas so Aufwändiges sein wie ein Hammeleintopf, wenn ein Schaf geschlachtet wird, oder etwas so Einfaches wie eine wässrige Brühe aus Hülsenfrüchten, die mit Klumpen klebrigen Maismehls oder in einem Sandofen gebackenen Brotes aufgenommen wird. An einem guten Tag bringen die Männer im Fluss gefangene Fische mit und die Frauen reiben