die Frau hinter dem Tresen – auf mich.
„Das ist hier kein Scherz!“, schreit der Mann. „Das ist echt!“
Und weiter:
„Wir werden heute alle sterben!“
In dem Moment denke ich an die Worte aus Johannes 10,10, und ich werde zugleich von einem Schrecken gepackt, der größer ist als alles, was ich je erlebt habe. Er fühlt sich eiskalt an, geht bis in die Knochen und scheint endlos, verzehrend. Ganz plötzlich wird mir klar, dass ich mit einem Dämon in einem Raum bin, und dieser Dämon ist gekommen, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten.
Der schwarz gekleidete Mann muss mich nur erschießen und durch die Seitentür gehen, und schon steht er vor dem ersten Klassenzimmer voller Kinder. All das wird nicht mehr als drei oder vier Sekunden dauern, es braucht nur seinen leichten Fingerdruck am Abzug und gerade mal zwanzig Schritte, ehe der Albtraum wahr wird und die Hölle und das Grauen sich wiederholen: Columbine, Virginia Tech, Sandy Hook – und McNair wird zu der „McNair“ werden. Ich bin so sehr verängstigt, dass ich nicht mal imstande bin, ein Gebet zu sprechen. Doch ich fange an, still, in meinem Innern, mit meinem himmlischen Vater zu reden – so wie ich es jeden Tag mache. Und während ich dasitze, mit zitternden Händen, einem rasenden Puls, dem Gewehrlauf vor Augen, stelle ich ihm eine einfache Frage:
„Gott, was machen wir jetzt?“
***
Mein Name ist Antoinette Marie Tuff. Vor den Ereignissen des 20. Augusts 2013 war mein Leben nicht außergewöhnlich, außer vielleicht mein Glaube an Gott. Dreiunddreißig Jahre lang war ich mit dem einzigen Mann verheiratet, den ich je so sehr kennengelernt und geliebt habe, und wir haben zwei bemerkenswerte Kinder, LaVita und Derrick. Ich habe in meinem Leben schon so manche seelische, geistliche und finanzielle Schwierigkeit durchgestanden, und es gab Krisen, in denen ich eine solche Not und Verzweiflung empfand, dass ich glaubte, sie nicht länger ertragen zu können. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich sogar versucht, mich umzubringen. Ich hätte es fast geschafft.
Ich bin im baptistischen Glauben groß geworden und fand, während ich heranwuchs, meinen eigenen Weg zu Gott. Seit ich erwachsen bin, ist Gott mein ständiger Begleiter. Er war immer bei mir, bei jedem Schritt. Auch wenn ich ihn manchmal nicht spüren konnte, war er selbst dann immer ganz besonders nah.
Er war da für mich, als mein Sohn mit einer ernsten neurologischen Erkrankung geboren wurde und als ihm eine andere Krankheit die Fähigkeiten raubte, zu sehen, zu hören und zu gehen. Gott war auch da, als mein Sohn im Sommer 2013 in einem Krankenhaus in Atlanta um sein Leben kämpfte, das nur noch an einem seidenen Faden hing. Er war auch da, als ich am 20. August diesen verheerenden Telefonanruf entgegennahm. Und Gott war bei mir, als der Bewaffnete hereinkam. Denn als der Dämon vom Tod sprach, sprach Gott vom Leben.
Über all das, was an diesem 20. August an der Rezeption der McNair geschah, haben Zeitungen, Nachrichten und TV-Sendungen ausführlich berichtet. Aber was sich in diesem Raum abspielte – was sowohl den Bewaffneten als auch mich zur selben Zeit an denselben Ort führte –, lässt sich nicht durch einen Polizeibericht, Zeitungsartikel oder fünfminütigen Fernsehbeitrag erfahren. Denn bei dem, was da passierte, geht es weder um mich noch um den Schützen – es geht vielmehr darum, wie Gott uns alle führt und uns für etwas vorbereitet, das wir nicht immer kennen. In Sprüche 3,5+6 steht: „Verlass dich nicht auf deinen eigenen Verstand, sondern vertraue voll und ganz dem Herrn! Denke bei jedem Schritt an ihn; er zeigt dir den richtigen Weg und krönt dein Handeln mit Erfolg.“
Das, was Sie in diesem Buch lesen werden – die Geschichte darüber, was wirklich am 20. August in diesem Raum geschah –, ist auch die Geschichte eines langen und beschwerlichen Wegs, der mich letztlich dorthin führte, wo ich an diesem Tag gebraucht wurde. Insofern ist dieser Weg selbst eine Geschichte darüber, wie Gott mich auf unterschiedlichste Art und Weise für diesen Tag vorbereitet hat, und ein Beispiel dafür, wie er uns alle auf unseren wahren Zweck hier auf Erden vorbereitet.
Nur zwei Wochen, bevor ich in den Lauf der Kalaschnikow sah, saß ich in der Kirche und hörte, wie unser Pastor mit seiner sanften Stimme aus Hebräer 6 vorlas. „Als Gott Abraham sein Versprechen gab, da bekräftigte er seine Zusage mit einem Eid. Und weil niemand über Gott steht und diesen Eid Gottes beglaubigen konnte, schwor Gott bei sich selbst. Er versprach Abraham: ,Du kannst dich fest darauf verlassen: Ich werde dich überreich mit meinem Segen beschenken und dir viele Nachkommen geben.‘“
„Sehen Sie“, fuhr unser Pastor fort, „es ist Gottes Verheißung, uns Leben zu schenken, nicht Tod. Er schwor uns das mit einem feierlichen Eid. Und er gab uns diese Verheißung, weil er uns Hoffnung schenken möchte. Er wollte uns dadurch Ermutigung schenken. Und diese Hoffnung, so heißt es im Hebräerbrief, ‚ist für uns ein sicherer und fester Anker‘.“
Ich saß in der Kirche, ließ die Worte auf mich wirken und dachte: Ja, das ergibt einen Sinn. Hoffnung ist ein Anker. Ich hatte in meinem Leben so viel Leid erlebt, so viel Unsicherheit und Chaos, dass ich mich manchmal wie ohne Halt in der Welt fühlte, so schwach und unbedeutend, dass ich jeden Moment wie in einem tiefen Meer in Vergessenheit geraten könnte. Aber nein, meine Seele war nicht haltlos. Meine Seele war durch Hoffnung in Gott verankert! Das zu erkennen, war für mich wunderschön und machtvoll.
Wir dürfen nicht zulassen, dass uns der Kummer des Lebens vorschreibt, wie wir handeln sollen. Wir müssen in Gott verankert bleiben. Und wenn wir das sind, wird uns ein solcher Glaube sicheren Halt geben.
Ich hoffe, dass Sie, wenn Sie die Geschichte meines Wegs lesen, etwas von Ihrem eigenen darin erkennen und Gedanken oder Worte finden, die Sie ansprechen und Ihnen vielleicht sogar dabei helfen, dieselbe verankernde Macht der Hoffnung und des Glaubens zu spüren, die ich am 20. August fühlte. Denn ganz egal, wohin uns unser Leben auch führt – ganz egal, in welchem Sturm wir unterwegs sind: Warten wir nicht alle auf die nächste Bestimmung? Hoffen wir nicht darauf, von Gott Schritt für Schritt beauftragt zu werden? Und stellen wir ihm nicht demütig dieselbe, einfache Frage:
„Gott, was machen wir jetzt?“
Unheil wächst nicht auf dem Acker,
und Mühsal schießt nicht aus
der Erde empor.
Nein, von Geburt an gehört zum
Menschsein die Mühe,
so wie zum Feuer die Funken gehören.
HIOB 5,6+7
Kapitel 1
Ich war mittlerweile ziemlich geübt darin, es so aussehen zu lassen, als hätte ich nicht geweint. Ich wusste, wie ich mich ziemlich schnell zusammenreißen konnte. Von meiner Scheidung hatte beispielsweise keiner meiner Mitarbeiter etwas mitbekommen, weil ich solche Probleme für mich behielt. Ich wusste also, wie ich so tun konnte, als sei alles in Ordnung: ein paar tiefe Atemzüge, ein paar letzte Seufzer und ich war wieder gefasst.
Nach dem verheerenden Anruf, den ich über mein Handy bekommen hatte, hörte ich das Telefon auf meinem Schreibtisch klingeln. Ich wusste, es war die Empfangsdame, die sich wunderte, wo ich blieb. Zehn Minuten war ich bereits zu spät. Ich sagte ihr, dass ich in einer Minute da sei. Ich wischte jegliche Beweise aus meinem Gesicht, die verrieten, wie ich mich fühlte, und machte mich auf den Weg zur Rezeption.
Doch eine der jungen Lehrerinnen, Belinda, fing mich direkt hinter der Bürotür ab.
„Frau Tuff, haben Sie eine Minute?“, fragte sie. „Ich könnte ein wenig Hilfe bei meinen verschiedenen Versicherungsformularen gebrauchen.“
„Klar“, sagte ich. „Ich muss nur die Rezeption besetzen. Kommen Sie mit.“
An der Rezeption unterhielt sich die Empfangsdame gerade mit einer Mutter. Belinda und ich beteiligten uns kurz am Gespräch. Nach ein paar Minuten ging die Empfangsdame zum Mittagessen. Die Mutter verabschiedete sich und ging ebenfalls.
In dem Raum befindet sich ein Schreibtisch, eine Theke, ein paar Stühle, ein Unterschriftenblatt und ein Monitor, auf dem die Empfangsdame sehen kann, wer vor der Tür steht und den Haupteingang öffnen kann, der nur ein paar Schritte von der Rezeption entfernt ist.