Alex Tresniowski

Größer als der Schmerz


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er mein Herz nicht hören, das wie wild raste. Oder wie tief erschrocken ich war. Es gibt wohl nichts Eisigeres, als wenn man erkennt, dass plötzlich etwas ganz Schreckliches geschieht. Noch vor einem Moment sah die Welt so aus und im nächsten ist sie schon ganz anders. Noch vor einer Minute hast du nicht viel über das Leben nachgedacht, und nun fürchtest du, dass dein Leben in jeder Sekunde vorüber sein könnte. Ich hatte Angst. Wirkliche Todesangst. Angst, die jeden Nerv in meinem Körper beanspruchte. Gleichsam fühlte ich da auch dieses Grauen, ein die Seele zerstörendes Grauen, das meinen Körper schwer und schwach anfühlen ließ. Und dann war da noch diese unglaublich bleierne Traurigkeit.

      Ziemlich früh wurde mir klar, dass ich mich mit dem Tod selbst in einem Raum befand. Auch dass die sehr wahrscheinliche Möglichkeit bestand, dass ich Derrick und meine Tochter LaVita nie wiedersehen würde. Dass ich sie nie wieder umarmen, küssen oder ihnen sagen könnte, wie sehr ich sie liebe. Ich wusste, dass der Mann, der da vor mir auf und ab schritt, labil war bei allem, was er tat. Ich wusste, dass der Dämon in ihm gekommen war, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten. Mir war vollends klar, wie schwierig meine Situation war. Ich wusste, jedes Wort aus meinem Mund konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten – nicht nur für mich, sondern für jeden im Gebäude. „Worte haben Macht: Sie können über Leben und Tod entscheiden“, heißt es in Sprüche 18,21. Insofern müssen wir durch unser Reden Leben in eine Situation bringen, wenn wir wollen, dass Gott sichtbar wird.

      Warum also vermochte ich so ruhig zu sprechen, wenn ich doch so verängstigt war?

      An genau diesem Morgen, zu Hause in meiner Küche, hatte ich Psalm 23 gelesen: „Der Herr ist mein Hirte … Er führet mich zum frischen Wasser.“ Ich las weiter: Ich „fürchte … kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“. Und weiter: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“ (LU). Auch gestern hatte ich am Tisch in meiner Küche genau dieselben Worte gelesen: Ich „fürchte … kein Unglück; denn du bist bei mir“. Und am Morgen davor und dem davor auch. Ich las diese Worte jeden Morgen, auf diese Weise festigten sie sich in meine Seele. Als ich dann am 20. August Gott fragte „Was machen wir jetzt?“, hatte ich im Herzen bereits eine Antwort. Gott würde mich zum frischen Wasser führen. Er würde mich trösten.

      Und Gott würde das Reden für mich übernehmen.

      Ich musste nicht beten, um das zu verstehen – es war einfach da. Tatsächlich kann ich mich nicht daran erinnern, am Anfang um Hilfe oder Trost gebetet zu haben, denn in diesen ersten Momenten war ich einfach viel zu durcheinander. Ich erinnere mich nur daran, dass ich die ganze Zeit über ein einziges Gebet sprach, und dabei ging es nicht um etwas, woran Sie jetzt denken würden.

      Ich betete nämlich zu Gott, nicht müssen zu müssen.

      Sie müssen wissen, dass ich bereits vorgehabt hatte, die Toilette aufzusuchen, bevor ich an die Rezeption ging, doch dann kam dieser verheerende Telefonanruf dazwischen, und danach war ich spät dran, und dann passierte all das hier. Und plötzlich spürte ich, dass ich wirklich absolut dringend zur Toilette musste. Es war fast nicht mehr auszuhalten. Vermutlich machte der Schrecken, von dem mein ganzer Körper ergriffen war, alles noch schlimmer. Also betete ich: „Herr, lass mich nicht müssen müssen. Gib, dass meine Blase sich beruhigt.“ Wie gesagt, vermutlich nicht das Gebet, das Sie in der Situation angesichts eines sich anbahnenden Amoklaufs erwarten würden, aber es war das Gebet, das ich im Stillen betete. Und zumindest für einen Moment lang war der unerträgliche Drang weg. Die Angst, das innerliche Beben und Zittern spürte ich die ganze Zeit, aber irgendwie hielt Gott mein Wasser zurück.

      Darüber hinaus musste ich Gott nicht um Hilfe bitten. Er schenkte mir meinen ruhigen, freundlich-bestimmten Ton in der Stimme, weil er wollte, dass ich auf diese Weise sprach.

      „Wie heißen Sie?“, fragte ich erneut, in der Hoffnung, den Bewaffneten zu beschäftigen und dazu zu bringen, auf mich zu hören. Bis jetzt hatte er nicht einmal Blickkontakt zu mir aufgenommen. Während er seine Befehle bellte, sah er stets an mir vorbei oder auf den Boden. Nie sah er mich direkt an.

      Er antwortete nicht. Er ging weiterhin nur auf und ab und betonte, wie ernst er es meinte.

      „Ich spiele nicht“, sagte er. „Ich weiß, dass ich sterben werde.“

      In diesem Moment ging die Eingangstür zur Rezeption auf und ein Mann mittleren Alters trat herein.

      Sein Name war Lou, er gehörte auch zur Schulverwaltung. Lou war eine der fröhlichsten und sorgenfreisten Seelen, die es nur geben mag. Er ging nicht einfach irgendwohin, er glitt dorthin. Er hatte ein Funkeln in seinem Blick und bewegte sich ganz leichtfüßig. Als er in die Rezeption kam, war er ebenso gut gelaunt, fröhlich und sorgenfrei wie immer. Er pfiff sogar. Mir wurde sofort klar, dass er den „Eindringlingsalarm“ nicht mitbekommen hatte. Er hatte absolut keine Ahnung davon, was hier gerade vor sich ging.

      Der Bewaffnete drehte sich zu ihm um und richtete das Gewehr auf ihn.

      Lou sah auf und bemerkte den Mann mit der Waffe, doch zuerst schien es ihn gar nicht zu beunruhigen. Noch immer hatte er sein breites Lächeln auf dem Gesicht. Vielleicht war sein erster Gedanke auch – so wie bei mir –, dass es sich um einen Scherz handelte. Er blieb stehen und der Bewaffnete brüllte erneut dieselben Worte:

      „Das ist kein Scherz!“, rief er. „Das passiert wirklich!“ Und er stieß mit seinem Gewehr in Lous Richtung, um seine Aussage zu untermauern.

      Lou erstarrte. Bevor irgendetwas anderes passieren konnte, machte ich den Mund auf. „Lou, komm zu mir hinter die Theke“, sagte ich und winkte ihn zu mir.

      Aus irgendeinem Grund beeilte sich Lou nicht. Er lief langsam, als wäre er noch immer nicht sicher, dass das hier tatsächlich passierte. Da war überhaupt keine Eile in seinen Bewegungen, es schien fast, als würde er bummeln. Ich aber wollte, dass er schnell hinter die Theke kam, damit er nicht mehr so ungeschützt war und damit der Bewaffnete nicht noch wütender wurde.

      Doch dafür war es zu spät.

      Denn bevor Lou es hinter die Theke schaffte, griff der Bewaffnete seine Kalaschnikow fester und feuerte. Der Lärm war ohrenbetäubend. Das Schießen hatte begonnen.

      ***

      Wenn du klein bist und deine Mutter zu einer Kirchengemeinde gehört, dann verbringst du jede Menge Zeit in der Kirche. Meine Mutter nahm uns regelmäßig mit in die baptistische Kirche, und sie erweckte gegenüber uns den Anschein, dass dort immer etwas los war. Es gab: einen Morgengottesdienst, einen Abendgottesdienst, Geflügel zum Abendessen, eine Ferienbibelschule, diverse Aktionen und Veranstaltungen sowie Versammlungen und Chorstunden und natürlich den Kindergottesdienst. Im Grunde war die Kirche dein Zuhause, wenn du nicht zu Hause warst. Ich hatte nichts dagegen, dorthin zu gehen. Meistens gefiel es mir dort auch gut, doch ich kann nicht sagen, ich wäre mit Leidenschaft dabei gewesen. Jedenfalls nicht so wie mein älterer Bruder Timmy.

      Timmy stand wirklich auf Gott. Als Kind war ich eher damit beschäftigt, mit meinen Freundinnen zu spielen, als mir viele Gedanken über die Worte der Bibel zu machen. Timmy aber studierte sie genau, und mehr noch: Er setzte in die Tat um, was er las. Als Teenager beispielsweise fastete er sogar vierzig Tage lang, so wie Jesus es in der Wüste tat.

      Mein anderer Bruder John und ich konnten einfach nicht verstehen, warum er das tat, aber unsere Skepsis kümmerte ihn nicht im Geringsten. Er sagte zu uns: „Ihr kommt alle in die Hölle.“

      Die Kirche hörte niemals auf, unser Zuhause zu sein, wenn wir nicht zu Hause waren. Und für eine lange Zeit war sie sogar buchstäblich unser Zuhause.

      Nachdem ich meinem Vater gesagt hatte, dass ich auf sein Grab spucken würde und ich wieder zu meiner Mama gereist war, um bei ihr zu bleiben, begann für uns eine lange Reise, auf der wir nichts hatten außer der Gnade Gottes, die uns führte. Nach dem Verlust unserer Mietwohnung in dem Stadthaus brachte Mama ihre Habseligkeiten in einem Lager unter, und wir beide zogen bei ihrer Freundin Connie ein. Connie hatte eine Wohnung mit drei Schlafzimmern im Nordosten von Washington, DC. Sie lebte mit ihrer Tochter Cheralyn und ihren Zwillingen Melvin und Kelvin dort, die ungefähr in meinem Alter waren. Wir blieben ein paar Monate dort, ehe wir zu einer anderen Freundin