Alex Tresniowski

Größer als der Schmerz


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diese Kugel in der Luft pfiff, eine andere Wand traf und wie die Patronenhülse in die Ecke zu meiner Linken fiel und dort liegen blieb. All das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Der strenge Geruch, der bei einem Schuss entsteht, lag in der Luft.

      Ich drehte mich zu Lou um und sah, dass er sich an die Brust fasste, als hätte er einen Herzinfarkt. Es hätte mich nicht überrascht, wenn es so gewesen wäre. Der Lärm des Gewehrschusses hob das Maß des Schreckens auf eine ganz neue Ebene. Dieser Mann hielt nicht nur eine tödliche Waffe in der Hand, er war auch mehr als gewillt, sie zu gebrauchen. Ich fühlte, wie sich mein Herz in meiner Brust verkrampfte, als hätte es jemand in die Hand genommen und würde nicht aufhören, es zusammenzupressen. Kalt und geradezu erdrückend wurde mir erneut klar: Ich konnte jeden Moment sterben.

      Jetzt stützte Lou sich auf den Tisch, während er noch immer an seine Brust fasste. Ich konnte nicht sagen, ob er gerade einen Herzinfarkt erlitt oder nicht. Ich vermute, Lou konnte das auch nicht.

      „Sie“, sagte der Bewaffnete und richtete sein Gewehr auf Lou. „Gehen Sie jetzt, und sagen Sie allen, was hier gerade geschieht.“

      Lou sah mich an. Seine Fröhlichkeit war nun verflogen, und sein Blick war der gleiche, den mir zuvor meine Freundin Belinda zugeworfen hatte. Einer, der sagte: „Ist es in Ordnung, dich hier zurückzulassen?“

      „Gehen Sie!“, wiederholte der Bewaffnete. „Gehen Sie jetzt!“

      Lou sah mich ein letztes Mal an.

      „Tu, was er sagt“, sagte ich zu ihm. „Geh!“

      Lou ging zur hinteren Tür und beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Auf einmal bewegte er sich schnell. Die Tür schloss sich hinter ihm und wieder waren da nur der Bewaffnete und ich. Er fing wieder damit an herumzulaufen. Ich saß unruhig auf meinem Stuhl. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich keinen Stift hätte ruhig halten können.

      Der Schuss hatte alles geändert. Wenn ich zuvor noch irgendwelche Zweifel daran gehabt hatte, was der Bewaffnete vorhatte, waren sie nun weg. Doch wenigstens war bislang noch niemand getötet worden.

      Der Mann blieb stehen und wandte sich zu mir, wobei er noch immer nach unten sah und den Blickkontakt mied.

      „Gehen Sie an die Haussprechanlage, und sagen Sie allen, was hier vor sich geht“, sagte er.

      Ich ergriff das Mikrofon und schaltete die Sprechanlage ein. Das Mikrofon zitterte in meiner Hand, ich versuchte, es ruhig zu halten.

      „Wir haben einen Eindringling im Gebäude“, brachte ich in einem ruhigen und angemessenen Ton heraus. Ich vernahm das Echo meiner eigenen Stimme aus den Lautsprechern in den nahe gelegenen Räumen. „Das ist keine Übung! Folgen Sie den Anweisungen, die für einen Eindringlingsalarm zu treffen sind. Bleiben Sie alle ruhig und alles wird gut werden. Ich wiederhole: Wir haben einen Eindringling im Gebäude. Das ist keine Übung!“

      Ich stellte das Mikrofon wieder hin. Der Bewaffnete schien mit meiner Ankündigung zufrieden zu sein. Ich war nur froh, dass nun alle im Gebäude wussten, dass sie in Gefahr waren. Hoffentlich würden die Lehrer anfangen, die Kinder irgendwie aus dem Schulgebäude zu bringen. Je länger der Bewaffnete bei mir blieb, desto mehr Zeit würden sie dafür haben.

      „Jetzt rufen Sie die Notrufnummer 911 an“, befahl der Bewaffnete. „Rufen Sie 911 an – und einen Nachrichtensender. Sagen Sie denen, dass ich zu schießen beginnen werde.“

      Ich nahm das Telefon und wählte 911 und wartete auf die Notrufleitstelle. Nach wenigen Sekunden meldete sich eine Frau.

      „Um was für einen Notfall handelt es sich bei Ihnen?“

      „Ja, guten Tag, ich bin in der Second Avenue in der Schule und hier ist ein bewaffneter Mann. Er sagt, er wird zu schießen anfangen.“

      „In Ordnung, bleiben Sie dran“, sagte die Frau am anderen Ende.

      „Lassen Sie niemanden ins Gebäude, auch nicht die Polizei“, sagte ich, und ich wiederholte es mit mehr Nachdruck: „Lassen Sie niemanden ins Gebäude, auch nicht die Polizei.“

      „Wo befinden Sie sich?“, fragte die Dame.

      „Ich bin an der Rezeption.“

      Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, sah ich den Bewaffneten, wie er einen der Kunststoffstühle hinter der Rezeption hervorholte, die Tür Richtung Eingang öffnete und den Stuhl so hinstellte, dass sie offen blieb. Danach ging er ein paar Schritte auf den Haupteingang der Schule zu. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich sehen, wie er eine der Eingangsglastüren aufstieß. Dann sah ich, wie er sein Gewehr anlegte und nach draußen zielte.

      Er begann zu schießen.

      Ein Schuss, noch einer und immer mehr. Peng, peng, peng, peng. Es war so unglaublich laut – wie in einem Kriegsfilm. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

      „Oh“, fuhr ich erschreckt am Telefon zusammen, „er ist gerade nach draußen gegangen und hat angefangen zu schießen.“

      Und dann, so als würde ich um Erlaubnis bitten, fragte ich: „Kann ich wegrennen?“

      „Können Sie an einen sicheren Ort gelangen?“, fragte die Leitstellentelefonistin.

      Ich fragte sie erneut, ob ich gehen oder ob ich bleiben sollte, weil der Bewaffnete mich sehen würde, wenn ich den Gang hinunterging und dann vielleicht das Feuer eröffnen könnte. Instinktiv stand ich auf. Nur ein paar Meter entfernt schoss der Bewaffnete noch immer. Ich behielt ihn im Blick. Das war meine Chance, durch die Hintertür hinauszulaufen, hoffentlich bevor er mich bemerkte und sein Gewehr auf mich richtete. Ich versuchte, meine Beine zu bewegen, doch nichts geschah. Ich versuchte es wieder, doch sie rührten sich einfach nicht. Jetzt oder nie. Wenn ich jetzt nicht wegrannte, bekäme ich vielleicht keine weitere Chance.

      Der Bewaffnete hörte auf zu schießen, kam zurück zur Rezeption und schlug die Tür hinter sich zu, schnaubend vor Wut.

      Ich stand noch immer an meinem Schreibtisch. Anscheinend sollte ich nicht wegrennen.

      ***

      Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Terry meinen Verlobungsring dazu benutzt hatte, einer anderen Frau einen Antrag zu machen, hätte ich ihn auf der Stelle verlassen können. Doch das tat ich nicht. Denn in Wahrheit liebte ich Terry mehr als mich selbst. Sogar mehr, als ich Gott liebte. Ich konnte selbst nicht verstehen, wie das möglich war, doch es war so. Ich vergab Terry und blieb bei ihm.

      Anscheinend sollte ich da auch nicht wegrennen.

      Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es war keineswegs so, dass ich diese Neuigkeiten gut aufgenommen hätte. Auf meinem Gesicht schmerzte die harte Ohrfeige des Betrugs. Und ich spürte das hässliche Gefühl, minderwertig zu sein, das sich dann einstellt, wenn man missachtet wird. Ich hatte diese Erfahrung schon einmal gemacht, denn ich fing erst an zu verstehen, wie groß die Wunde war, die mein Vater in meiner Kindheit verursacht hatte, nachdem er uns verlassen hatte. Und jetzt war da Terry, der womöglich das Gleiche tat. Der Anblick meines Rings am Finger einer anderen Frau löschte alles andere aus meinem Kopf. Ich konnte an nichts anderes denken als den Schmerz und die Qual, die ich empfand. Doch in mir war noch etwas anderes: Zorn. Ich fühlte mehr Zorn auf Terry als auf irgendjemand anderen, seit mein Vater mich mit einem Besenstil geschlagen hatte.

      Während der ersten Jahre unserer Partnerschaft war Terry mehr als einmal fremdgegangen, aber damals waren wir jünger, und ich wusste, dass er am Ende immer zu mir zurückkommen würde. Das tat er auch. Aber jetzt waren die Dinge anders. Wir waren Eltern. Nicht nur das: Er hatte mich öffentlich betrogen. Jeder außer mir wusste davon. Er hatte mich vor der ganzen Gemeinde blamiert. Ich dachte, ich hätte mehr Respekt verdient als das. Und ich war dabei, ihn nun einzufordern.

      „Jetzt reicht’s“, sagte ich zu Terry, als ich endlich unter vier Augen mit ihm sprechen konnte. „Genug ist genug. Entweder wir heiraten jetzt oder es ist vorbei.“

      Und Terry machte, was er immer machte: Er entschied sich für mich. Verstehen Sie, ich glaubte an Terry und ich glaubte an uns. Selbst wenn Terry das noch nicht tat, so war mein Glaube