Emmanuelle Bayamack-Tam

Arkadien


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um überhaupt zu funktionieren. Ein wütendes Schnauben, das Froufrou ihrer Rüschen, Zähneknirschen, das ungeduldige Hämmern ihrer Hand auf der Armlehne, dann ist sie so weit: »Arkady …«

      Ihre nach fast hundert Jahren Raucherei vermännlichte Stimme erhebt sich unter dem Kreuzrippengewölbe und schlägt alle in Bann – mit Ausnahme von Arkady, der sich durch nichts beeindrucken lässt. Man muss wissen, dass Dadah – mit bürgerlichem Namen Dalila Dahman – stets gesprochen hat, um Furcht zu wecken und Gehorsam zu fordern; und selbst, wenn sie das gar nicht fordern wollte, fürchtete man sie und gehorchte ihr, so wie ihr praktisch alles von Geburt an in den Schoß gefallen ist. Als steinreicher Spross einer Familie von Kunsthändlern war Dadah nichts Besseres eingefallen, als sich noch mehr zu bereichern, über jedes vernünftige, ja vorstellbare Maß hinaus, denn wer hat schon die Gehirnkapazität, die Größe eines Vermögens zu ermessen, das auf Millionen beziffert wird? Eins muss man Dadah allerdings lassen, sie wusste ihr Geld auszugeben, und im Gegensatz zu dem, was eine dämliche Volksweisheit behauptet, hat dieses Geld sie durchaus glücklich gemacht. Würden die Gebrechen des Greisenalters sie nicht an ihren Rollstuhl fesseln, wäre sie übrigens noch immer regelrecht glücklich und unempfänglich für das Leid von anderen, und zwar in einem Grade, wie man ihn maximal erreichen kann. Nun, da Arthritis und Emphysem sie davon abhalten, in ihren Privatjet zu springen, ist ihre Welt auf die Größe des Liberty House geschrumpft, das vor allem von ihr gesponsert wird. Doch obwohl sie Dutzende von solchen Wohlfahrtseinrichtungen großzügig fördern könnte, geizt Dadah bei ihren Spenden, während sie verschwenderisch mit Worten umgeht, die unsere mangelnde Dankbarkeit anprangern – und uns jeden Euro, den sie für Heizkosten und Landschaftspflege aufwendet, teuer bezahlen lässt. Ja, Reiche können ganz schön knickrig sein, trotzdem kenne ich außer Dadah niemanden, der Verpackungen aus Aluminium wiederverwendet und anderen rät, das Kochwasser für die Kartoffeln später zum Pflanzengießen oder Geschirrspülen zu benutzen. Mittlerweile ist sie in Fahrt geraten, und ich bin sicher, dass sie zu Arkadys großartigem Vortrag über die Spiegel einiges zu sagen hat.

      »Arkady, Vergrößerungsspiegel sind beim Schminken doch sehr praktisch, besonders in unserem Alter!«

      Mit ihren sechsundneunzig Jahren ist Dadah bei weitem die Älteste im Phalansterium, aber sie redet immer so, als wäre ganz Liberty House eine Seniorenresidenz. Dabei sind – einmal abgesehen von meiner erst zweiundsiebzigjährigen Großmutter und Victor, der da vorgibt, fünfzig zu sein – die meisten Gäste in der Blüte ihres Lebens. Es kommt Dadah jedoch gelegen, so zu tun, als stünden alle hier kurz vor ihrer Vergreisung. Auf der Kanzel sammelt Arkady seine Notizen zusammen, ein Bündel vergilbter Blätter, die vermutlich kaum Bezug zum Thema des Tages haben, aber er liebt es nun mal, seine Eloquenz mit solchen Requisiten zu unterstreichen und mit den Insignien der Gelehrsamkeit Eindruck zu schinden. Dalila Dahman muss sich warm anziehen.

      »Wozu die Schminke? Habt ihr jemals erlebt, dass jemand durch Make-up oder Lippenstift schöner wird? Das Gegenteil ist der Fall: Glaubt mir, mit jedem Lidstrich, jedem Tropfen Nagellack, jedem Puderhauch rückt ihr ein Stück weiter von aller Schönheit und Wahrhaftigkeit ab!«

      Dadah klammert sich an die Armstützen ihres elektrischen Rollstuhls für siebentausend Euro und bebt, weil sie sich angegriffen fühlt und gleichzeitig auf ein Wortgefecht mit ihrem Lebenscoach freut – denn so lautet die Rolle, die sie Arkady zuweist. Gleich bei ihrer Ankunft hat sie ihm ihre Seele anvertraut und voller Erleichterung deren Führung überlassen. Dennoch lehnt sie sich immer wieder wegen Kleinigkeiten auf, damit niemand vergisst, dass sie jederzeit ihre Freiheit – und ihr Geld – wieder für sich beanspruchen kann. Und so hebt sie zu einem Plädoyer für Blush und Wimperntusche an, die sie hartnäckig als Rouge und Mascara bezeichnet, trotzdem verstehen wir sie, vor allem, da sie beides im Übermaß aufträgt und uns das von Arkady gegeißelte Unnatürliche lebhaft vor Augen führt: asymmetrische, safrangelb bestäubte Wangenknochen, geschwollene, fettig glänzende Lippen, verspachtelte Falten, verklebte Wimpern. Neben ihr – natürlich nur im übertragenen Sinn, weil sie sich gegenseitig nicht leiden können und jede Tuchfühlung meiden – wirkt meine Großmutter so frisch und rosig wie ein Laib Reblochon. Man muss wissen, dass sie der Kosmetikindustrie schon lange vor ihrer Begegnung mit Arkady misstraute und lieber ihre von erweiterten Äderchen durchzogenen Wangen und ihr zerknittertes Dekolletee zur Schau stellt, als sich mit irgendeiner Creme zu behelfen – geschweige denn mit Skalpell oder Silikon.

      Arkady hört Dadah nur mit einem zerstreuten, vielleicht sogar ungeduldigen Ohr zu. Er mag ja gerontophil sein, doch die senilen Haarspaltereien, in denen Dadah regelmäßig schwelgt, gehen ihm schnell auf die Nerven. Leider hat sie sich nun des Themas bemächtigt und wird so bald nicht lockerlassen. Im Gegensatz zu Arkady, der immer mit einer Bühne und einem andächtigen Publikum rechnen kann, wenn er sich äußern möchte, bleibt Dadah inzwischen die willfährige Aufmerksamkeit versagt, die sie in ihrer Glanzzeit erlebt hat. Zwar ist sie nach wie vor reich und furchterregend, ihr Verstand lässt sie aber meist dermaßen im Stich, dass ihr selbst die größten Speichellecker in ihrer Gefolgschaft kaum mehr zuhören. Doch obwohl Dadah nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, bleiben ihr genug Synapsen, um zu merken, dass ihr Wort nichts mehr gilt. Darum nutzt sie jede Gelegenheit auf das Ausgiebigste, um andere zuzuschwallen, und setzt sich dabei souverän über sämtliche Unterbrechungen und Anzeichen von Überdruss hinweg. Mangelnder Zuspruch dient ihr sogar als Ansporn, und so dreht sie sich genüsslich in ihrem Rollstuhl hin und her und setzt mit ihrem Kontra-Alt dramatische Akzente:

      »Das ist ja unerhört, dass eine Frau sich nicht einmal mehr hübsch machen darf, solange sie noch kann! Kleinere Unreinheiten zu beheben, ist außerdem ein Gebot der Höflichkeit! Heutzutage findet man äußerst wirksame Anti-Aging-Produkte. Ja wirklich!«

      Seltsamerweise glaubt Dadah immer noch, ihre Haut weise nur winzige Makel auf, etwa ein brauner Fleck hier, oder dort eine geplatzte Ader, ein Lachfältchen vielleicht, die man alle leichter Hand mit Concealer oder Highlighter abdecken kann. Und da deutet sie auch schon mit zittrigem Finger auf ihre verheerten Gesichtszüge, als wollte sie uns zeigen, welche Wunder die Kosmetologie bei ihr bewirkt hatte – dabei ist Dadah der lebende Beweis ihrer Unwirksamkeit. Während sie für dreißig Sekunden triumphierend verstummt, nimmt Arkady geschwind den Faden seines Vortrags wieder auf und wendet sich dem »einzigen brauchbaren Spiegel« zu. Als guter Redner holt er etwas weiter aus und baut gezielt Spannung auf, sodass sich alle den Kopf zerbrechen und überlegen, was wohl gemeint sein könnte. Das gibt auch mir genügend Zeit, allerlei kraftlose Vermutungen anzustellen: die Augen, das Gewissen, die Quellen, die Brunnen, die Pfützen, der Himmel, was weiß ich. Dann erweist sich allerdings, dass ich vollkommen daneben liege, denn nun reckt sich der kleine Arkady hinter seinem Pult zur vollen Höhe auf und verkündet, dass Der Spiegel der einfachen vernichtigten Seelen und jener, die einzig im Wollen und Verlangen der Liebe verbleiben fortan unser aller Spiegel sein soll. Natürlich folgt auf diese Erklärung ehrfürchtiges Schweigen, aber mit ein paar flüchtigen Blicken nach links und nach rechts stelle ich fest, dass keiner was verstanden hat, abgesehen von Victor, dessen selbstgefällige, vielsagende Miene mich auf den Gedanken bringt, dass er hinter diesem hochliterarischen Verweis steckt. Sollte es sich nämlich um ein Buch handeln, dann stammt die Idee garantiert nicht von Arkady, der das Lesen verabscheut.

      Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das erkannte, weil er fortwährend bekundet, die Literatur im Allgemeinen und den großen Victor im Besonderen zu lieben, und weil er das Liberty House zudem noch sehr großzügig mit Glasschränken und Regalen ausgestattet hat, die Hunderte Bücher mit Goldschnitt fassen. Ich habe selbst, auf den Aubusson-Teppichen der Bibliothek sitzend und von einem Sonnenstrahl beleuchtet, stundenlang in ihnen geblättert, als vollendete Allegorie jugendlichen Bildungshungers, aber auch als Mensch gewordene Ratlosigkeit – denn es handelte sich bei den meisten Büchern um uralte Abhandlungen über Arithmetik oder Agronomie, die Arkady meterweise gekauft hatte, wohl eher darauf bedacht, die Einbände auf unsere Sesselbezüge abzustimmen, als unseren Wissensdurst mit richtigen Büchern zu stillen. Nachdem diese dekorativen Schwarten zur hagiografischen Sammlung der Schwestern vom Heiligsten Herzen hinzugekommen sind, bleibt für die Literatur hier im Grunde nur wenig Raum – ein Regalbrett, wenn überhaupt. Nein, ich übertreibe, denn auch wenn Victor ein furchtbarer Angeber ist, hegt er für die Poesie eine wirkliche Leidenschaft und besitzt eine eigene Bibliothek. Zu meinem Leidwesen befindet sich diese jedoch