Emmanuelle Bayamack-Tam

Arkadien


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sichert, sodass ich mir noch nie Zugang dazu verschaffen konnte, trotz meiner heimlichen Erkundungen ihrer Hochzeitssuite.

      Ich liebe Arkady und halte ihn für den Inbegriff von Seelengröße, dennoch muss ich zugeben, dass Victor und er sich selbst die prunkvollsten Räumlichkeiten zugeteilt haben, während den Gästen des Liberty House geradezu klösterliche Zellen oder Bettnischen zugewiesen wurden, die man durch Unterteilung der Schlafsäle gewonnen hatte. Ich selbst verfüge nur über ein fünf Quadratmeter kleines Kämmerchen, und meine Eltern sind kaum besser dran. Das ist mir aber egal. Es gefällt mir sogar, auf so engem Raum zu hausen, und ich fühle mich in meinem Schlupfwinkel mit dem winzigen Fenster geborgen. Vor allem, weil besagtes Fensterchen auf das Geäst einer Atlas-Zeder blickt und ich mich allein schon über ihre Nachbarschaft freue, über den Duft ihrer Zapfen, das beständige Schrammen ihrer Zweige gegen die Fassade, das fröhliche Getöse der Vögel, die in ihnen nisten und mich jeden Morgen wecken – jeden Morgen, als wäre es der erste Morgen. Bevor ich ins Liberty House einzog, lebte ich in einem Zustand sensorischer Entbehrung, der mir nicht einmal bewusst war. Eltern, die ihr Kind mehr als hundert Meter von einem Grasmückennest oder Zistrosenstrauch entfernt aufwachsen lassen, sollten strengstens bestraft werden. Meine Eltern haben diesen Fehler begangen, sodass ich um ein Haar nie das Vergnügen erlebt hätte, meine Blütenblätter in der Sonne zu entfalten, die Wange an einen harzigen Baumstamm zu schmiegen oder auf eine Gewitterfront zuzustürmen.

      Arkady wagt sich an eine mitreißende Exegese der gelungensten Seiten seines Spiegel der einfachen Seelen, aber ich höre ihm gar nicht mehr zu, weil mir schlagartig diese Erkenntnis gekommen ist: Die einfache und vernichtigte Seele bin ja ich; das Verlangen der Liebe ist mein einziges Verlangen – ohnehin habe ich nie so recht gewusst, was die Liebe von der Vernichtigung unterscheidet. Während der Mann meines Lebens sich voller Begeisterung über Marguerite Porète und die Brüder und Schwestern vom Freien Geist auslässt, lasse ich meinem eigenen freien Geist freien Lauf, auf dass er die duftenden Pfade meiner Ländereien beschreite. Dort, vom zirpenden Lied der Zikaden umgeben, genieße ich die Vernichtigung und das Gefühl, dass mein ganzes Wesen sich im Wind verstreut wie der Kopf einer Pusteblume.

      »Niemand kann als Mensch ausgelöschter sein!«

      Arkady blickt mich an, als erriete er meine Gedanken und richtete diesen Schlusssatz direkt an mich, höchstwahrscheinlich ein Zitat der bemerkenswerten Marguerite Porète, deren gesammelte Werke zu beschaffen ich mir augenblicklich vornehme – es sei denn, sie stecken bereits zwischen zwei Bänden des Palmier séraphique, einem Machwerk, das sowohl Arkadys Vorliebe für Halbledereinbände befriedigt als auch dem spirituellen Trachten der Schwestern vom Heiligsten Herzen gerecht wird. Der Titel – Seraphisches Palmbuch – gefällt mir sehr, und ich habe es mehrmals angefangen, doch mit jedem Versuch sinkt es mir unweigerlich aus der Hand, sobald ich beim erbaulichen Leben des Jean Parent ankomme, auch bekannt als »Meister der Tränen«, was mir längst eine Warnung hätte sein sollen: Nichts ist langweiliger als Heulsusen. Kurzum, auch ich bin ausgelöscht, meinen bukolischen Betrachtungen vollkommen hingegeben, wesenloses Schirmchen einer Pusteblume, oder gehe ganz und gar in meiner Vergötterung Arkadys auf, als eifrige Schülerin, Groupie, fast schon Leibdienerin – ganz wie er will. Doch etwas in mir sträubt sich gegen die Auflösung, das spüre ich, etwas hält stand. Zart, aber zäh, wie ein Versprechen auf neuerliches Sprießen nach sommerlicher Glut oder winterlichem Frost, wie eine empfindliche Jahreszeit, für die es keinen Namen gibt, außer meinem, vielleicht.

      Arkady hat seine Predigt beendet und schickt uns weg zu unseren Beschäftigungen. Alle stemmen sich erleichtert aus ihren Stühlen. Nur Victor bleibt auf seinem sitzen, man muss allerdings wissen, dass er Hilfe braucht, um sich hochzuquälen, und dass ich ihm diesen Gefallen ganz sicher nicht tun und sein angestrengtes Ächzen und das Schwabbeln seiner Plautze nicht ertragen werde, hopp, ich husche davon, obwohl er nach mir Ausschau hält und seinen Siegelring auf den Knauf seines Stocks klirren lässt. Soll er doch allein zurechtkommen: Ich habe mich zwar der Sklaverei verschworen, doch er ist mein Herr nicht.

5.

      Im Liberty House arbeiten alle halbwegs gesunden Erwachsenen – was nicht besonders viele sind, nimmt dieses Haus doch vor allem Invalide auf, und zwar jeglicher Art. Meine Mutter etwa ist wegen ihrer Neigung zur raschen Ermüdung und ihres Migränefelds von jeder Tätigkeit entbunden. Ja wirklich, in Ermangelung elektromagnetischer Strahlen musste ihre Empfindlichkeit eine andere Ausdrucksform finden. Außerdem hat sich ihr Körper an bestimmte Symptome gewöhnt: ihr diese zu entziehen, wäre fast so grausam gewesen wie sie weiterhin technologischer Verschmutzung auszusetzen. Auch wenn es ihr sehr viel besser geht, neigt sie noch immer zu Panikattacken, Kopfschmerzen und niedrigem Blutdruck. Wohingegen sich mein Vater der Zucht und dem Verkauf von Blumen verschrieben hat und dabei feststellen durfte, wie viel Liebe und Geduld er dafür aufbringt.

      Lange vor unserer Ankunft gedieh das Liberty House auf Arkadys Anregung hin zu einer Produktionseinheit für Bio-Anbau von Obst und Gemüse. Also haben wir einen Obst- und einen Gemüsegarten, auf die ich einen gewissen Anspruch erhebe, auch wenn sie nicht ausdrücklich zu meinem Verantwortungsbereich zählen. Der Obstgarten interessiert mich nicht genug, um ihn den Wespen streitig zu machen, die wegen der gärenden Äpfel und Birnen dreist, ja sogar richtig aggressiv werden, aber der Gemüsegarten ist ein herrlicher Ort, mit seinen Reihen von ins Kraut schießenden Kohlköpfen, den Belrubi-Erdbeerpflanzen, den schweren Kürbissen und dem Geruch der Tomatenblätter, den Sonne wie Regen intensivieren.

      Mein Vater fing zunächst behutsam an, mit Dahlien und Kapuzinerkresse, dann aber, vom Erfolg seiner Sträuße auf den Märkten im Umland berauscht, erweiterte er seine Angebotspalette: Gladiolen, Schwertlilien, Tulpen, Nelken, Osterglocken, Ringelblumen, Margeriten, und wurde zum Experten für Samen, Sämlinge, Naturdünger und natürliche Insektizide. Mit leuchtenden Augen und zutiefst bewegt kehrte er aus dem Garten und den Gewächshäusern zurück und konnte sich ebenso endlos über die Blütenknospe der Herbstanemone auslassen wie über den Duft der Lilien oder Freesien. Blumen sind tatsächlich ein geniales Gesprächsthema: Probieren Sie es aus, Sie werden feststellen, dass jeder dazu eine Meinung hat, jeder seine Lieblingsblume oder, ganz im Gegenteil, eine, die er wegen ihres penetranten Dufts oder ihrer Arroganz nicht zu ertragen vermag. Doch, doch! Immer gibt es wen, dem das Heliotrop zu prätentiös oder die Pfingstrose zu sehr von ihrem eigenen Krausköpfchen eingenommen ist: Zeitgleich mit seinem Thema hatte mein Vater sein Publikum gefunden, Leute, die ihm endlich zuhören, ihm, der sich bis dahin seiner Untauglichkeit als Gesprächspartner schmerzhaft bewusst war. Als er einmal am Mittagstisch ein wenig ins Schwadronieren geriet, mit geröteten Wangen und in hastigem Tempo – so hatte man Marqui noch nie erlebt -, zog er sogar die Aufmerksamkeit von Victor dem Kleinen auf sich, der voll und ganz mit dem Löffeln seiner Kürbiscremesuppe beschäftigt war. Nach dem Essen schleifte er meinen Vater in die Bibliothek und zog zwei Bücher mit blauem Perkalineinband heraus, die laut den sorgfältig eingeklebten Exlibris eine gewisse Odette Garnier der Gemeinschaft vom Heiligsten Herzen vermacht hatte: Botanik für Damen, Band I und II.

      »Scheint dich ja zu interessieren, wirf mal einen Blick hinein. Stell dir vor: Blumen haben eine Sprache!«

      Dabei war Sprache genau das, woran es meinem Vater gebrach, weshalb er trotz eingefleischter Denkfaulheit diese Bücher von der ersten bis zur letzten Seite las – seither ist er wie ausgewechselt.

      Um das Ausmaß dieser Metamorphose greifbar zu machen, muss ich bis zur Schulzeit des armen Eros Marchesi – meines Vaters – zurückgehen. An seine Jahre in der Vorschule erinnert er sich nur vage, soweit er weiß, hat er alle zufriedengestellt, immer freudig bereit, im Chor mitzusingen, Bälle zurückzuspielen oder in Reifen zu springen; sonst war er immer schön artig und streckte die Zunge nur heraus, wenn er die vier krakeligen Buchstaben seines Vornamens zeichnete. In der ersten Klasse wurde es komplizierter. Der kleine Eros war mit einem vertrauensvollen Lächeln hineingegangen, mit unendlich gutem Willen und der Überzeugung, dieser Wille würde reichen, um alles richtig zu machen. Das aber war nicht der Fall: Er wollte so gern und machte alles falsch. Genauer gesagt, scheiterte er exakt an dem, was in seinem ersten Grundschuljahr das Allerwichtigste zu sein schien – lesen lernen. Mit den Buchstaben hatte er nie Schwierigkeiten gehabt, ehe er sie zusammenbringen sollte. Das Alphabet rezitierte