Lucia Berlin

Abend im Paradies


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annehmen?«, fragte Hope. Er sagte ja. Er ging die Treppe hinauf und klopfte an die Tür. Als niemand antwortete, drehte er an der Metallkurbel, die ein kratzendes Klingeln auslöste. Nach einer Weile ging die Tür auf. Meine Mutter sagte wütende Dinge, die wir nicht hören konnten, und schlug die Tür zu.

      Als er wieder nach unten kam, gab er jeder von uns noch zwei Silberdollars.

      »Ich muss mich entschuldigen. Ich hätte mich vorstellen sollen. Ich bin F.B. Moynahan, dein Onkel.«

      »Ich bin Lu. Das ist Hope.«

      Dann fragte er, wo Mamie sei. Ich sagte ihm, dass sie in der First-Texan-Baptist-Kirche im Stadtzentrum gegenüber der Bibliothek wäre. »Danke«, sagte er und fuhr weg. Wir stopften die Dollars in unsere Socken. Gerade rechtzeitig, denn meine Mutter kam die Stufen hinuntergerannt, Lockenwickler in den Haaren.

      »Das war dein Onkel Fortunatus, die Schlange. Wag es nicht, auch nur einer Menschenseele zu sagen, dass er da war. Hörst du mich?« Ich nickte. Sie schlug mir auf Schulter und Rücken. »Sag kein Wort zu Mamie. Er hat ihr das Herz gebrochen, als er weggegangen ist. Hat sie alle dem Hunger überlassen. Es wird sie aufregen. Kein Wort. Verstanden?« Ich nickte noch einmal.

      »Antworte mir!«

      »Ich sag kein Wort.«

      Zur Sicherheit gab sie mir noch einen Klaps und ging wieder hinauf.

      Später waren alle zu Hause, jeder in seinem Zimmer, wie üblich. Das Haus hatte vier Schlafzimmer, die auf der linken Seite des Flurs lagen, ein Badezimmer am Ende, und auf der anderen Seite waren die Küche, das Speisezimmer und das Wohnzimmer. Der Flur war immer dunkel. Pechschwarz in der Nacht, blutrot von den Buntglasspiegeln tagsüber. Ich hatte Angst, auf die Toilette zu gehen, bis Onkel John mir beibrachte, an der Haustür zu beginnen und mir immer wieder zuzuflüstern »Gott wird mich beschützen. Gott wird mich beschützen« und wie der Teufel zu rennen. An diesem Tag ging ich auf Zehenspitzen, weil meine Mutter im vorderen Schlafzimmer Onkel John erzählte, dass Fortie hergekommen war. Onkel John sagte, er wünschte, er wäre da gewesen, damit er ihn hätte erschießen können. Dann blieb ich vor der Tür zu Mamies Zimmer stehen. Sie sang Sally in den Schlaf. So süß. »Way down in Missoura when my mammy sang to me.« Als ich aus dem Bad kam, war Onkel John in Großpapas Zimmer. Ich lauschte, als Großpapa zu Onkel John sagte, dass Fortunatus versucht hatte, in den Elks Club hineinzukommen. Großpapa hatte ihm ausrichten lassen, er solle verschwinden, sonst würde er die Polizei rufen. Sie redeten noch ein bisschen weiter, was ich aber nicht hören konnte. Nur Bourbon, der in die Gläser gluckerte.

      Schließlich kam Onkel John in die Küche. Ich bekam Eistee, während er trank. Er tat sich Minze ins Glas, damit Mamie glaubte, auch er würde Eistee trinken. Er sagte mir, dass Onkel Fortunatus vor vielen Jahren von zu Hause weggegangen war, als sie ihn gerade wirklich brauchten. Sowohl John als auch Großpapa hatten heftig gesoffen und konnten nicht arbeiten. Onkel Tyler und Fortunatus unterstützten die Familie, bis Fortunatus mitten in der Nacht nach Kalifornien gegangen war. Hatte eine Nachricht hinterlassen, in der stand, dass er genug hätte vom Moynahan-Gesindel. Er hatte nie Geld oder auch nur einen Brief geschickt, kam nicht nach Hause, als Mamie beinahe gestorben wäre. Jetzt war er der Präsident irgendeiner Eisenbahngesellschaft. »Besser, du erwähnst nicht, dass du ihn getroffen hast«, sagte Onkel John zu mir.

      Wegen Jack Benny waren alle im Wohnzimmer. Sally schlief weiter. Mamie saß auf ihrem kleinen Stuhl, die Bibel wie immer aufgeschlagen vor sich. Aber sie las nicht darin. Sie sah auf das Buch, und in ihrem alten Gesicht lag ein Ausdruck von Glück. Ich begriff, dass Onkel Fortunatus sie gefunden und mit ihr gesprochen hatte. Als sie aufsah, lächelte ich. Sie lächelte zu mir zurück und schaute wieder nach unten. Meine Mutter stand im Türrahmen, rauchte. Das Lächeln machte sie nervös, und hinter Mamies Rücken warf sie mir lauter Shh!-Zeichen zu und machte Gesichter. Ich schaute sie einfach mit einem ausdruckslosen Blick an, so, als hätte ich keine Ahnung, was sie meinte. Großpapa hörte Radio und lachte über Jack Benny. Er war schon betrunken. Er schwang heftig in seinem Schaukelstuhl vor und zurück und zerriss Zeitungspapier in kleine Streifen, verbrannte sie in dem großen roten Aschenbecher. Onkel John stand trinkend und rauchend im Türrahmen des Speisezimmers, nahm alles in sich auf. Er ignorierte die Zeichen, die meine Mutter ihm gab, damit er mich aus dem Zimmer brachte. Ich nahm an, dass auch er sah, wie Mamie lächelte. Meine Mutter machte husch! zu mir, damit ich ging. Ich gab vor, es nicht zu bemerken, und sang die Werbung von Fitch mit: »Wenn dein Kopf juckt, nicht kratzen! Fitch nehmen! Benutz deinen Kopf! Rette dein Haar! Nimm Fitch Shampoo!« Sie schaute mich so böse an, dass ich es nicht aushielt, also holte ich einen Silberdollar aus meiner Socke.

      »Hey, guck mal, was ich gekriegt habe, Großpapa!«

      Er hörte auf zu schaukeln. »Wo hast du das her? Du und die blöden Araber, habt ihr das gestohlen?«

      »Nein. Es ist ein Geschenk!«

      Meine Mutter schlug mir ins Gesicht. »Du miese kleine Göre!« Sie schleifte mich aus dem Zimmer und warf mich zur Tür hinaus. In der Erinnerung kommt es mir so vor, als hätte sie mich am Schlafittchen gepackt wie eine Katze, aber ich war schon sehr groß, also kann das nicht stimmen.

      Sobald ich draußen war, rief Hope, ich sollte schnell rüberkommen. »Sie verbrennen heute frühzeitig!« Das meine ich damit, dass wir dachten, es wäre frühzeitig. Es war einfach noch nicht dunkel gewesen.

      Gewaltige Schwaden und Fahnen schwarzen Rauchs stiegen aus dem Schornstein hoch in die Luft, drehten sich und wirbelten mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit herum, die Schwaden breiteten sich über unserem Viertel aus, und es war, als wäre schon Nacht, mit nebligen Rauchfahnen, die über die Dächer und in die Gassen hinunterkrochen. Der Rauch wurde dünner und tanzte und breitete sich weiter über dem gesamten Zentrum aus. Wir konnten uns nicht bewegen. Tränen rannen uns aus den Augen wegen des übelriechenden Brennens und Gestanks der Schwefelabgase. Aber als der Rauch sich über dem Rest der Stadt auflöste, war er genauso von unten beleuchtet wie das Glas von der Sonne, und so wurde sogar Rauch zu Farben. Schönes Blau und Grün und das schillernde Violett und Säuregrün von Benzin in Pfützen. Ein flackerndes Gelb und ein rostiges Rot und dann vor allem ein weiches, moosiges Grün, das sich auf unseren Gesichtern spiegelte. Hope sagte: »Igittigitt, deine Augen haben diese ganzen Farben angenommen.« Ich log und sagte, ihre auch, dabei waren ihre Augen so schwarz wie immer. Meine hellen Augen wechseln wirklich die Farbe, also haben sie sich wahrscheinlich tatsächlich in den Spiralen des Rauchs verfärbt.

      Wir schnatterten nie wie die meisten kleinen Mädchen. Wir redeten überhaupt nicht viel. Ich weiß, dass wir kein Wort über die schreckliche Schönheit des Rauches oder des glühenden Glases sagten.

      Auf einmal war es dunkel und spät. Wir gingen beide ins Haus. Onkel John schlief auf der Verandaschaukel. Im Haus war es heiß, und es roch nach Zigaretten, Schwefel und Bourbon. Ich kroch zu meiner Mutter ins Bett und schlief ein. Es schien mitten in der Nacht zu sein, als Onkel John mich wachrüttelte und nach draußen mitnahm. »Weck deine Freundin Hope«, flüsterte er. Ich warf einen Stein an ihr Fliegengitter, und innerhalb von Sekunden war sie draußen bei uns. Er führte uns zum Rasen und wollte, dass wir uns hinlegten. »Macht eure Augen zu. Zu?«

      »Ja.«

      »Ja.«

      »Okay, macht die Augen auf und guckt Richtung Randolph Street zum Himmel.« Wir öffneten die Augen in die klare texanische Nacht hinein. Sterne. Der Himmel war voller Sterne, und es war, als wären es so viele, dass einige vom Rand zu springen schienen, sich hinabstürzten, ausgeschüttet wurden in die Nacht. Dutzende, Hunderte, Tausende vorüberschießender Sterne, bis sie schließlich ein Wolkenband verbarg und langsam weitere Wolken den Himmel über uns bedeckten.

      »Träumt süß«, flüsterte er, als er uns zurück ins Bett schickte.

      Am Morgen regnete es wieder. Es regnete und flutete die ganze Woche lang, und schließlich hatten wir genug vom Frieren und vom Schlamm und gaben unsere Dollars aus, um ins Kino zu gehen. An jenem Tag, an dem wir von »Die Seeteufel von Cartagena« zurückkamen, kehrte mein Vater gesund aus dem Krieg zurück. Kurz darauf zogen wir nach Arizona, weshalb ich nicht weiß, was in dem Sommer, der diesem folgte, in Texas geschah.