zu denken und Naomi vermied es, wann immer es ihr möglich war. Sie hatte die Ninja 250R gekauft, nachdem ihre Mutter gestorben war. Das gebrauchte, rote Motorrad hatte förmlich geschrien: »Fahr mich!«, und sie hatte es haben müssen. Dank Chuys Fähigkeiten als Mechaniker hatte sich das Motorrad bald wie neu gefahren. Wenn sie auf ihm unterwegs war, konnte sie die Erinnerungen zurückdrängen: an ihre Mutter, wie sie in ihrem Bett dahinsiechte, und an ihren Vater, der seinen Kummer in Alkohol ertränkte, nachdem ihre Mutter gestorben war.
»Wieso sitzt du denn hier draußen?«
Chuy kam aus dem kleinen, weißen Haus heraus. Die Fliegengittertür fiel hinter ihm ins Schloss. Sie konnte nicht glauben, wie sehr ihr Cousin sich verändert hatte. Er war ein dünner Junge mit schlimmer Akne gewesen. Jetzt bestand er aus Muskeln – dank seines Jobs in der Cruz Moving Company. Das tägliche Möbelschleppen hatte seinen Körper gut geformt, obwohl Naomi das niemals laut zugeben würde. Seinem Ego wurde schon von einigen Mädchen in der Nachbarschaft regelmäßig geschmeichelt, die sich um ihn scharten.
»Ich genieße die Stille, bevor ich mich dem lauten Mob stelle, den wir als Familie bezeichnen.« Sie schwang ihr Bein über den Sitz und schloss ihren Helm am Motorrad an.
»Lass mal. Ich schiebe diese Todesfalle für dich.« Er lehnte sich über ihr Motorrad und spannte seine muskulösen Arme für sie an. »Guck dir die Muckis an. Sind größer geworden.«
Sie verdrehte die Augen und schob ihn beiseite. »Igitt, Chuy. Du hast eine Dusche nötig.«
Chuy grinste. »Was ist los? Ist deine Nase zu fein für Eau de Mexicano? Manche von uns müssen sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Nicht alle von uns können einen College-Abschluss haben wie du.«
Naomi schnaubte. Chuy machte sich immer dann über sie lustig, wenn er versuchte, seine Gefühle zu verbergen. Er war wie ein älterer Bruder und hatte immer auf sie aufgepasst, besonders nachdem die Dinge heftig geworden waren mit ihrem Vater.
Manchmal war sie eifersüchtig auf die besondere Beziehung, die Chuy und ihr Vater hatten, aber sie konnte ihrem Vater nicht vorwerfen, dass er Chuy unter seine Fittiche genommen hatte. Schließlich waren dessen eigene Eltern getötet worden, als er fünf war. Ihre Großmutter hatte Chuy großgezogen, ihre Argusaugen stets wachsam, damit er nicht einer der Gangs des Viertels in die Hände fiel. Aber wann immer Chuy ein Problem hatte, war es ihr Vater, der da gewesen war, um die Dinge zu richten.
»Du könntest mittlerweile deine eigene Firma haben, wenn du nicht nach dem ersten Semester alles hingeschmissen hättest.«
»Kannst du mir das vorwerfen? Alles über Sokrates zu lernen hätte mir kaum geholfen, meine Rechnungen zu bezahlen.« Chuy schob den Seitenständer nach unten.
Sie musterte ihn aufmerksam. Das war sein wunder Punkt. Er hatte auf dem College bleiben wollen, aber selbst mit finanzieller Unterstützung hatte er es sich nicht leisten können, die College-Gebühren aufzubringen und gleichzeitig ihre Großmutter zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr Vater Mühe gehabt, seinen eigenen Job zu behalten und hatte deshalb auch nicht helfen können.
»Okay, okay. Das gebe ich zu. Du bist wirklich schlau, weißt du.« Sie stupste ihn am Arm an. »Ich hätte Algebra ohne deine Hilfe nicht geschafft.«
»Nicht so laut.« Chuy sah sich nervös um, als sie die Vordertreppe des Hauses erreichten. »Ich habe einen Ruf zu wahren.«
»Oh, wie schrecklich! Ich würde nicht wollen, dass jemand denkt, du wärst intelligent.«
Naomi hörte in einiger Entfernung Musik näherkommen. Die Nachbarskinder traten beiseite und sahen zu, wie der schwarze Mustang um die Ecke bog. Verspiegelte Felgenkränze drehten sich langsam, als das Auto die Straße hinunterrollte. Auf dem Kühlergrill säumten helle LED-Lichter das Pferdelogo wie ein bläulich-weißer Heiligenschein.
»Ernsthaft, Dad?«, fragte Naomi, als ihr Vater, Javier Duran, das Auto vor ihr anhielt. »Depeche Mode?«
»Du weißt, dass ich das mag. Du hast immer dazu getanzt, als du klein warst.« Javier stieg aus dem Auto und umarmte sie. »Herzlichen Glückwunsch, Mijita, mein Töchterchen. Du hast heute Morgen wunderschön ausgesehen in Doktorhut und Umhang.«
»Danke, Dad.« Naomi liebte es, wenn er den spanischen Kosenamen verwendete.
»Hast du uns gehört? Wir haben für dich applaudiert.« Javier öffnete den Kofferraum des Autos und nahm eine Tüte mit Einkäufen heraus.
»Ja, Dad. Ich glaube, jeder hat Chuys Luftdruckfanfare gehört.«
»Hey, ich musste ein bisschen Leben da reinbringen«, sagte Chuy, während er die übrigen Tüten aus dem Kofferraum hob. »Es war so langweilig, dass wir fast eingeschlafen sind.«
»Mission erfüllt. Der Rektor hat fast einen Herzinfarkt bekommen.« Naomi ging zur Vorderseite des Wagens und fuhr mit dem Finger das Licht um das galoppierende Pferd nach. »Du hast die Lichter fertig eingesetzt. Sieht gut aus.«
Javier strahlte und tätschelte die Kühlerhaube des Autos. »Du solltest es mal nachts sehen. Es sieht aus, als würde das Pferd direkt auf dich zugaloppieren.«
Sie lachte. Es war lange her, seit sie ihren Vater das letzte Mal so glücklich gesehen hatte. »Dad, du hörst dich an wie ein Teenager.«
»Das Leben ist hart, Mijita. Man muss es genießen, solange man kann.«
»Ja, wir können schließlich nicht alle so ernste Bücherwürmer sein wie du, Naomi«, sagte Chuy. »Außerdem bist du zweiundzwanzig, nicht zweiundachtzig. Leb ein bisschen.«
Wenn sie das nur könnte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie in der Lage gewesen war, sich ihrem Alter entsprechend zu verhalten. Während der ersten beiden Jahre am College war sie auf eine Menge Partys der Studentenverbindung gegangen. Aber alles hatte sich in ihrem dritten Jahr geändert, als ihrer Mutter die Diagnose gestellt worden war. Im Gegensatz zu anderen Mädchen ihres Alters war sie nicht daran interessiert, mit Jungen auszugehen, selbst als ihre Mutter sie dazu anspornte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Mutter hoffte, Naomi würde jemanden finden, auf den sie sich stützen konnte, wenn sie nicht mehr da wäre.
Nachdem sie gestorben war, hatte Naomi keine Zeit gehabt zu trauern, weil sie zu beschäftigt damit gewesen war, sich um ihren verstörten Vater zu kümmern. Wenn sie ihrer Mutter nicht versprochen hätte, ihren Abschluss zu machen, hätte sie sogar das College verlassen.
Javier und Chuy unterhielten sich angeregt über das Auto, während sie Richtung Hinterhof gingen. Naomi lächelte. Es schien, als ob es für sie alle aufwärts ginge. Vor einigen Wochen war Javier den Anonymen Alkoholikern beigetreten und hatte aufgehört zu trinken. Er hatte all seine Energie darein gesteckt, mit Chuy den Mustang zu reparieren. Naomi hatte einen neuen Job als Einzelfallhelferin der Kinderschutzbehörde, den sie in zwei Wochen antreten würde. Da sie dann mehr Geld verdienen würde, wäre sie vielleicht sogar in der Lage, Chuy mit der Abzahlung der Hypothek ihrer Großmutter zu helfen.
»Mijita! Da bist du ja. Was hat denn so lange gedauert?« Naomis Großmutter eilte die Verandatreppe hinab und schlang ihre dünnen braunen Arme um sie.
»Autsch, Belita«, sagte Naomi. »Du zerquetschst mich ja.«
Ihre Großmutter – oder Belita, wie sie von allen liebevoll genannt wurde – war winzig, aber kräftig. Sie trug ihr tintenschwarzes Haar kurzgeschnitten. Sie sagte immer, es sei zu heiß für jede andere Länge. Jahre harter Arbeit, die sie auch damit zugebracht hatte, erst ihren Sohn und dann Chuy großzuziehen, hatten ihr wenig Zeit gelassen, sich selbst etwas zu gönnen, besonders wenn es um Kleidung ging. Sollte jemand ihren Schlafzimmerschrank öffnen, hätte er den Eindruck, in die 70er zurückversetzt worden zu sein. Naomi hatte versucht, ihre Großmutter zu überzeugen, von Polyester auf Baumwolle umzusteigen und hatte sogar angeboten, ihr einen neuen Kleiderschrank zu kaufen, aber Belita hatte abgelehnt mit der Begründung, dass ihre Kleider noch völlig in Ordnung seien und eines Tages wieder in Mode sein würden.
»Ay, Dios mío. Du fährst dieses Ding immer noch. Ich habe dir doch gesagt, du kannst meinen Buick haben.« Belita marschierte an ihr vorbei und warf dem Mototorrad ihren besten bösen Blick zu. »Chuy, kannst du es nicht auf diesem Ding zum Verkauf