L. G. Castillo

Lash (Gefallener Engel 1)


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werde dir helfen.« Belita schob sich zur Kannte ihres Stuhls vor. »Hilf mir hoch, Javier.«

      Javier stellte die Flasche, die er hielt, auf dem Tisch ab und streckte ihr einen Arm entgegen. Sie stemmte sich mit ihrem Gewicht gegen ihn und zog sich hoch.

      »Geh du ins Bett.«, sagte er. »Ich werde Naomi helfen.«

      Belita drehte sich zu ihrem Sohn um und tätschelte ihm die Wange. »Du bist ein guter Junge und hast eine phantastische Tochter großgezogen. Meine College-Absolventen.« Während sie das sagte, ergriff sie ihre Hände. »Ich bin so stolz auf euch beide.«

      Naomi warf einen Blick hinüber zu Chuy, der sich noch immer mit einigen von seinen Freunden unterhielt, während sie und ihr Vater die beiseite geworfenen Becher und Teller aufsammelten. Jedes Mal, wenn Chuy zu einem der Mädchen hinsah, senkte dieses die Augen und gab vor, jedem Wort gebannt zu folgen, das aus seinem Mund kam. Er belohnte sie, indem er jedes Mal den Bizeps anspannte, wenn er die Flasche an die Lippen führte oder wenn er sich an der Kühltruhe zu schaffen machte, was er oft tat.

      Irgendwann sah Chuy zu Naomi herüber und wackelte mit den Augenbrauen, als ein Mädchen namens Rosie sich an ihn schob. Sie war eines jener Mädchen – der Typ mit beeindruckendem Dekolltee, der die Männer zum Sabbern brachte. Rosie schob ihr langes gewelltes Haar über ihre Schulter und schenkte Chuy eines ihrer besonderen Lächeln. Naomi steckte sich einen Finger in den Mund und tat so, als müsste sie würgen. Sie war nicht besonders begeistert. Rosie hatte den Ruf, sich an alles heranzumachen, was sich bewegte und sie hatte zwei Babys, um das zu beweisen. Wäre Belita wach, würde sie wahrscheinlich ihren Besen holen und Rosie davonscheuchen.

      »Hey, Naomi, komm mal her!«, rief Chuy.

      »Was ist los?« Naomi lehnte das Bier, das Lalo ihr anbot, mit einer Handbewegung ab.

      »Was stimmt denn mit deiner Cousine nicht, Alter?«, fragte Mateo, einer von Chuys Freunden. »Zu fein, um mit uns zu trinken?«

      »Ich kann dich hören, Mateo«, sagte Naomi und stemmte die Hände in die Hüften. »Und um deine Frage zu beantworten, ich bin auf meinem Motorrad hergekommen, also kein Alkohol für mich – wenn ich nicht die Nacht auf der Couch verbringen und Chuys Schnarchen ertragen möchte, das das ganze Haus erschüttert.«

      »Ich schnarche nicht«, entgegnete Chuy. »Du schnarchst.«

      »Mhm. Ja, richtig.« Sie verdrehte die Augen.

      »Komm schon Chuy, jetzt reib’s schon«, sagte Lalo. »Wenn wir jetzt losgehen, können wir noch ein paar Runden am Würfeltisch schaffen und vor unserem Konzert am Nachmittag zurück sein.«

      »Reib was? Und wohin willst noch so spät? Musst du morgen nicht arbeiten?« Naomi schlug nach Chuys Händen, als er ihr das Haar von der Schulter strich. »Was machst du da?«

      »Wir fahren zum Lake-Charles-Casino in Louisiana«, antwortete er, während er versuchte, den Kragen ihrer Bluse nach unten zu ziehen. »Komm schon, Naomi. Lass mich dran reiben, das bringt Glück.«

      Naomi schlug ihm noch einmal auf die Finger, »Lass das sein, Chuy. Meine Geburtsfehler sind nicht zu deiner Unterhaltung da.«

      »Ich gebe dir zwanzig Mäuse, wenn ich gewinne.«

      »Nein.«

      »Ach, komm schon.«

      »Es ist nur eine Ansammlung von Sommersprossen, Chuy.«

      »Sie bringen Glück.«

      »Sprecht ihr von ihren Sommersprossen?«, rief Javier, als er, zwei volle Müllsäcke hinter sich herziehend, an ihnen vorbeikam. »Sie bringen Glück«, erklärte er, bevor er im Vorgarten verschwand.

      »Dad«, stöhnte sie.

      »Siehst du?«, sagte Chuy. »Selbst dein Dad denkt, sie sind Glücksbringer.«

      »Ich muss dieses Ding sehen.« Mateo trat einen Schritt näher an Naomi heran.

      Chuy stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn zurück, indem er ihm eine Hand auf die Brust legte. »Das kannst du nicht, Mann. Es ist eine Familiensache.«

      »Im Ernst, Chuy, jetzt bist du schon so abergläubisch wie Belita. Nur, weil meine Sommersprossen wie eine Sieben aussehen, heißt das noch lange nicht, dass sie Glück bringen. Wenn sie das täten, glaubst du, ich würde Belita in diesem Viertel wohnen lassen… mit dir?« Es was ein merkwürdig geformtes Mal in ihrem Nacken. Sie hatte es in ihrer Kindheit nicht bemerkt, bis sie eines Tages mit Chuy schwimmen gegangen war. Er hatte sich von hinten an sie herangeschlichen und wollte sie gerade in den Pool schubsen, als er das ungewöhnliche geformte Mal bemerkt hatte. Belita hatte ihnen erzählt, dass Naomi damit geboren worden und zu etwas Besonderem bestimmt war. Chuy hatte das so aufgefasst, dass das Mal ein Glücksbringer war.

      »Es bringt Glück. Letzte Woche, nachdem ich dir den Nacken massiert hatte, habe ich ein Los fürs Lotto gekauft und fünfzig Mäuse gewonnen.«

      Sie schäumte vor Wut. »Und ich dachte, du wolltest nett sein, weil ich in der Prüfungswoche so gestresst war!«

      Chuy versuchte noch einmal, ihren Nacken zu berühren und sie schlug ihm auf die Finger. »Hör auf damit! Ich bin kein Flaschengeist.«

      »Und wenn ich dich in meinen Selbstverteidigungskurs lasse?«

      Chuy bot ehrenamtlich Selbstverteidigungskurse im Begegnungszentrum des Stadtteils an. Sie hatte ihn seit Wochen darum gebeten, sie beitreten zu lassen. Wenn man in Houston lebte, vor allem in diesem Stadtteil, war Selbstverteidigung etwas, das jede Frau beherrschen sollte.

      Naomi seufzte. »Okay.« Sie hob ihr Haar an und zog den Kragen ihrer Bluse nach unten. »Mach schnell, ich will’s hinter mich bringen.«

      Chuy rieb kurz daran. »Na siehst du, das war doch gar nicht so schlimm, oder?«

      »Igitt, hau ab. Und nimm deine Freunde gleich mit.« Sie schubste ihn scherzhaft und ging davon, um nach ihrem Vater zu suchen.

      3

      Naomi warf den letzten Müllsack in die Tonne und setzte sich ihrem Vater gegenüber auf die Vordertreppe. Er spielte mit einer roten Marke, seinem Einen-Monat-nüchtern-Abzeichen und ließ es zwischen seinen Fingern kreisen. Sie lehnte sich gegen das Geländer und sah hinauf zu den Sternen am wolkenlosen Himmel. Sie saßen in einvernehmlichem Schweigen, keiner von ihnen wollte die außergewöhnlich friedliche Stille der Nacht stören. Normal waren das ferne Krachen von Schüssen und das Heulen von Sirenen. Obwohl Naomi nur wenige Meilen entfernt wohnte, machte sie sich Sorgen, weil ihre Großmutter und Chuy in einer so gefährlichen Gegend lebten.

      »Hat es dir gefallen, Mijita?«, fragte Javier.

      »Es war großartig, Dad.« Naomi warf einen Seitenblick auf die braune Flasche, die er hielt.

      »Das ist Limo«, sagte er als Antwort auf ihren Gesichtsausdruck. »Ich weiß, dass du Angst hast, ich könnte wieder zu trinken anfangen. Du hast mein Wort darauf, dass ich das nicht tun werde.«

      »Bist noch in Kontakt mit deinem Sponsor?«

      »Jeden Tag.«

      »Gut.«

      Ihr Vater blieb einen Moment lang still. Er verlagerte das Gewicht, bevor er sprach. »Es gibt etwas, das ich dir geben möchte.«

      »Dad– «

      »Bevor du nein sagst, lass es mich erklären.« Er klopfte auf die freie Stelle neben ihm. »Komm her.«

      »Aber– «

      »Bitte, das hier ist wichtig.«

      Sie rutschte über die Stufe heran und Unbehagen überkam sie, als sie darauf wartete, dass ihr Vater zu sprechen anfing. Das letzte Mal, als er so ein Gesicht gemacht hatte wie jetzt, war, als er ihr hatte sagen müssen, dass ihre Mutter gestorben war.

      Er griff in seine Tasche und zog ein filigranes Silberkettchen hervor. Als er es im Verandalicht baumeln ließ, strahlten blaue und weiße Lichtblitze von den winzigen Diamanten ab, die das Kreuz säumten. Die Halskette ihrer Mutter. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie sich erinnerte, wie sie auf dem Krankenhausbett