Густав Майринк

Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке


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an, wie geistesabwesend mit sich selbst zu sprechen. „Ja, wenn der Zrcadlo nicht wär’“ – der Leibarzt horchte auf, als der Name fiel, und erinnerte sich, dass er doch eigentlich des Schauspielers wegen hergekommen sei; – „Ja, wenn der Zrcadlo nicht wär’! – Ich glaub’, er ist an allem schuld. – Ich muss ihn fortschicken. – Wenn ich nur – wenn ich nur die Kraft dazu hätt’.“ —

      Der Herr kaiserliche Leibarzt räusperte sich laut, um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. – „Sag mal, Liesel, was ist das eigentlich mit dem Zrcadlo?“ – „Er wohnt doch bei dir?“ fragte er endlich direkt heraus.

      Sie fuhr sich über die Stirn: – „Der Zrcadlo? Wieso kommst du auf ihn?“

      „Nun. Halt so. Nach dem, was gestern beim Elsenwanger passiert ist. – Mich interessiert der Mensch. – Nur so. Halt als Arzt.“

      Die „böhmische Liesel“ kam langsam zu sich, dann trat plötzlich ein Ausdruck des Schreckens in ihre Augen. Sie packte den kaiserlichen Leibarzt heftig am Arm:

      „Weißt du, manchmal, da glaub’ ich – er ist der Teufel. Jesus Maria, Thaddäus, denk nicht an ihn! – Aber nein“ – sie lachte hysterisch auf – „das is alles dummes Zeug. – Es gibt doch gar keinen Teufel. – Er ist natürlich nur verrückt. – Oder – oder ein Schauspieler. Oder alles beides zusammen.“ Sie wollte wieder lachen, aber ihre Lippen verzerrten sich nur.

      Der kaiserliche Leibarzt sah, dass ein kalter Schauer sie überlief und ihre zahnlosen Kiefer schlotterten.

      „Selbstverständlich ist er krank“, sagte er ruhig, „aber manchmal muss er doch bei sich sein – und da hätt ich gern einmal mit ihm gesprochen.“

      „Er ist nie bei sich“, murmelte die „böhmische Liesel“.

      „Du hast aber doch gestern Nacht gesagt, er geht in den Beiseln herum und spielt den Leuten etwas vor?“

      „Ja. – Ja, das tut er.“

      „No, dazu muss er doch bei sich sein?“

      „Nein. Das ist er nicht.“

      „So. – Hm“ – der kaiserliche Leibarzt grübelte nach. – „Aber er war doch gestern geschminkt! Tut er das vielleicht auch ohne Bewusstsein? – Wer schminkt ihn denn?“

      „Ich.“

      „Du? Wieso?“

      „Damit er für einen Schauspieler gehalten wird. Und etwas verdienen kann. – Und damit mer ihn net einsperrt.“

      Der Pinguin blickte die Alte lang und misstrauisch an.

      „Es kann doch gar nicht sein, dass er – ihr Zuhälter ist“, überlegte er. – Sein Mitleid war verflogen, und der Ekel fasste ihn wieder an. – „Wahrscheinlich lebt sie mit von seinen Einnahmen.“ „Jaja, natürlich, so wird’s wohl sein.“

      Auch die „böhmische Liesel“ war mit einem Mal ganz verändert. – Sie hatte ein Stück Brot aus der Tasche gezogen und kaute mürrisch daran.

      Der Herr kaiserliche Leibarzt trat verlegen von einem Bein aufs andere. Er fing an, sich innerlich heftig zu ärgern, dass er überhaupt hiehergekommen war. —

      „Wenn d’ gehen willst – ich halt’ dich nicht“, brummte die Alte nach einer peinlichen Pause längeren beiderseitigen Stillschweigens.

      Der Herr kaiserliche Leibarzt griff rasch nach seinem Hut und sagte, wie von einem Druck befreit: „Ja, freilich, Liesel, du hast recht, es ist schon spät. – Hm, ja. – No, und so gelegentlich komm’ ich wieder nach dir schauen, Liesel.“ – Er tastete mechanisch nach seinem Portemonnaie. —

      „Ich hab’ dir schon einmal g’sagt, ich brauch’ kein Geld nicht“, fauchte die Alte los.

      Der Herr kaiserliche Leibarzt zuckte mit der Hand zurück und wandte sich zum Gehen:

      „Alsdann, grüß dich Gott, Liesel.“

      „Servus, Thadd – , Servus, Pinguin.“

      Im nächsten Augenblick stand der Herr kaiserliche Leibarzt, geblendet von der grellen Sonne, auf der Gasse und strebte gallig seiner Droschke zu, um so rasch wie möglich aus der „Neuen Welt“ heim zum Mittagessen zu fahren.

      Hungerturm

      In dem mauerumfriedeten stillen Hof der „Daliborka“[9] – des grauen Hungerturms auf dem Hradschin – warfen die alten Linden bereits schräge Schatten, und das kleine Wärterhäuschen, darin der Veteran Vondrejc mit seiner gichtbrüchigen Gattin und seinem Adoptivsohn Ottokar, einem neunzehnjährigen Konservatoristen, wohnte, lag wohl schon eine Stunde in kühlem Nachmittagsdunkel.

      Der Alte saß auf einer Bank und zählte und sortierte einen Haufen Kupfer- und Nickelmünzen neben sich hin auf das morsche Brett, die ihm der Tag als Trinkgeld von den Besuchern des Turms eingebracht hatte. Jedes Mal, wenn er die Zahl zehn erreichte, machte er mit seinem Stelzbein einen Strich in den Sand.

      „Zwei Gulden siebenundachtzig Kreizer“, brummte er, als er fertig war, unzufrieden zu seinem Adoptivsohn hin, der, an einen Baum gelehnt, emsig damit beschäftigt war, die spiegelnden Flecken an den Knien seines schwarzen Anzuges rauhzubürsten, und rief es dann mit lautem, militärischem Meldeton durchs offene Fenster in die Stube hinein, damit es seine bettlägerige Frau hören könne.

      Gleich darauf sank er, den bis in den Nacken haarlosen Kopf mit der hechtgrauen Feldwebelmütze bedeckt, in starrer, totenähnlicher Ruhe zusammen wie ein Hampelmann, in dem der Lebensfaden plötzlich gerissen ist, und hielt seine halbblinden Augen unbeweglich auf den mit libellenförmigen Baumblüten übersäten Boden geheftet.

      Er achtete nicht einmal mit einem Wimpernzucken darauf, dass sein Adoptivsohn den Geigenkasten von der Bank nahm, sich seine Samtkappe aufsetzte und dem schwarz-gelb gestreiften, kasernenmäßigen Ausgangstor zuschritt. Er antwortete nicht auf den Abschiedsgruß. – Der Konservatorist schlug den Weg nach abwärts ein, der Thunschen Gasse zu, in der die Gräfin Zahradka ein schmales, finsteres Palais bewohnte, blieb aber nach wenigen Schritten, wie von einem Gedanken erfasst, stehen, warf einen Blick auf seine abgeschabte Taschenuhr, kehrte hastig um und eilte, die Wiesenstege des „Hirschgrabens“ abkürzend, wo immer es ging, zur „Neuen Welt“ empor, wo er, ohne anzuklopfen, das Zimmer der „böhmischen Liesel“ betrat. —

      Die Alte war so tief versponnen in ihre Jugenderinnerungen, dass sie lange nicht begriff, was er von ihr wollte.

      „Zukunft? Was ist das: Zukunft?“ murmelte sie geistesabwesend, immer nur die letzten Worte seiner Sätze verstehend, „Zukunft? – Es gibt doch gar keine Zukunft!“ – sie musterte ihn langsam von oben bis unten – der verschnürte Studentenrock des jungen Mannes verwirrte sie offenbar. – „Warum nicht goldene Tressen heute? – Er ist doch Oberst-Hofmarschall!“ fragte sie halblaut in die leere Luft hinein. – „Aha, Pan Vondrejc mladsi – ah, der junge Herr Vondrejc will die Zukunft wissen! Ah so.“ – Jetzt erst erfasste sie, wen sie vor sich hatte.

      Ohne weiter ein Wort zu verlieren, ging sie zur Kommode, bückte sich, fischte unter den Möbeln ein mit rötlichem Modellierton überzogenes Brett hervor, stellte es auf den Tisch, reichte dem Konservatoristen einen hölzernen Griffel und sagte: „Da! Tupfen S’, Pane Vondrejc! Von rechts nach links. – Aber ohne zu zählen! – Nur an das denken, was Sie wissen wollen! – Und sechzehn Reihen untereinander.“

      Der Student nahm den Stift, zog die Augenbrauen zusammen und zögerte eine Weile, dann wurde er plötzlich leichenblass vor innerer Erregung und stach in fliegender Hast und mit zitternder Hand eine Anzahl Löcher in die weiche Masse.

      Die „böhmische Liesel“ zählte sie zusammen, schrieb sie in Kolonnen neben- und untereinander auf eine Tafel, während er ihr gespannt zusah, zeichnete die Resultate in geometrische Formen geordnet in ein mehrfach geteiltes Viereck und schwätzte dabei mechanisch vor sich hin:

      „Das sind die Mütter, die Töchter, die Neffen, die Zeugen, der Rote, der Weiße und der Richter, Drachenschwanz und Drachenkopf. –