dazwischen, „steht da etwas von Zizka?“
Sie achtete nicht auf die Frage. – „Wenn die Moldau nicht so rasch flösse, heut noch wäre sie rot von Blut.“ – Dann änderte sie mit einem Mal den Ton wie in grimmiger Lustigkeit: „Weißt du, Buberl, warum so viel Blutegel in der Moldau sind? Vom Ursprung bis zur Elbe – wo du am Ufer einen Stein aufhebst, immer sind kleine Blutegel darunter. Das kommt, weil früher der Fluss ganz aus Blut bestand. Und sie warten, weil sie wissen, dass sie eines Tags wieder neues Futter kriegen – Was ist das?“ – sie ließ erstaunt die Kreide aus der Hand fallen und starrte abwechselnd den jungen Mann und die Figuren auf der Tafel an – „was ist das! – Willst du vielleicht gar Kaiser der Welt werden?“
– Sie sah ihm forschend in die dunklen, flackernden Augen.
Er gab keine Antwort, aber sie bemerkte, dass er sich am Tische krampfhaft festhielt, um nicht zu taumeln. „Am End’ wegen der da?“ – sie deutete auf eine der geometrischen Figuren. „Und ich hab’ immer geglaubt, du hättst ein Gspusi mit der Bosena vom Baron Elsenwanger?“
Ottokar Vondrejc schüttelte heftig den Kopf.
„So? Es ist also schon wieder aus, Buberl? – Na, was ein ächtes böhmisches Madel is, trägt nichts nach. Auch nicht, wenn’s ein Kind kriegt. – Aber vor der da“ – sie zeigte wieder auf die Figur – „nimm dich in acht. – Die saugt Blut. – Sie is auch eine Tschechin, aber von der alten gefährlichen Rass’.“
„Das ist nicht wahr“, sagte der Student heiser.
„So? Glaubst du? – Sie ist aus dem Stamme Boriwoj, sag’ ich dir. Und du“ – sie blickte den jungen Mann lang und nachdenklich in das schmale, braune Gesicht – „und du – du bist auch aus der Rasse Boriwoj. So zwei zieht’s zueinander wie Eisen und Magnet. – Was braucht man da lang in den Zeichen zu lesen“ – sie wischte mit dem Ärmel über die Tafel, ehe sie der Student daran hindern konnte. „Gib nur acht, dass du nicht das Eisen wirst und sie der Magnet, sonst bist du verloren, Buberl. – Im Stamme Boriwoj war Gattenmord, Blutschande und Brudermord an der Tagesordnung. – Denk an Wenzel, den Heiligen[11]!“
Der Konservatorist versuchte zu lächeln. – „Wenzel der Heilige war ebensowenig aus dem Stamme Boriwoj, wie ich es bin. Ich heiß’ doch bloß Vondrejc, Frau – Frau Lisinka.“
„Sagen Sie mir nicht immer Frau Lisinka!“ – wütend schlug die Alte mit der Faust auf den Tisch; „Ich bin keine Frau! – Ich bin eine Hur. – Ich bin ein Fräulein!“
„Ich hätt’ nur noch gern gewusst – Lisinka – , was haben Sie da vorhin gemeint mit dem – ‘Kaiser werden’ und mit Jan Zizka?“ fragte der Student eingeschüchtert.
Ein Knarren von der Wand her ließ ihn innehalten. —
Er drehte sich um und sah, dass im Rahmen der langsam sich öffnenden Tür ein Mann stand, eine große, schwarze Brille im Gesicht, den übermäßig langen Gehrock zwischen den Schultern ungeschickt ausgestopft, wie um einen Buckel vorzutäuschen – die Nasenlöcher weit aufgebläht von Wattepfropfen, die darin staken – , eine fuchsrote Perücke auf dem Schädel und einen ebensolchen Backenbart, dem man auf hundert Schritt ansehen konnte, dass er angeklebt war.
„Prosim! Milostpane! Gnädigste!“ wandte sich der Fremde mit deutlich verstellter Stimme an die „böhmische Liesel“. „Bittschän, Pardon, wann ich stäare, bittschän, war sich nicht vorhin der Herr kaiserliche Leibharz von Flugbeil hier?“
Die Alte verzog ihren Mund zu einem lautlosen Grinsen.
„Bittschän, man hat mir, här’ ich, nämlich gesagt, dass er sich hier gewesen is.“
Die Alte grinste weiter wie eine Leiche.
Der sonderbare Kerl wurde sichtlich betreten.
„Ich soll nämlich dem Herrn kaiserlichen Leibharz – “
„Ich kenn’ keinen kaiserlichen Leibarzt!“ schrie die „böhmische Liesel“ jäh los – „Schauen Sie, dass Sie hinauskommen, Sie Rindvieh!“
Blitzartig schloss sich die Türe und der nasse Schwamm, den die Alte von der Schiefertafel abgerissen und nach dem Besuch geschleudert hatte, fiel klatschend zu Boden. —
„Es war nur der Stefan Brabetz“, kam sie der Frage des Konservatoristen zuvor. „Er ist ein Privatspitzel. Er verkleidet sich jedesmal anders und glaubt, dann kennt man ihn nicht. – Wenn irgendwo etwas los ist, dann schnüffelt er’s heraus. Er möcht dann immer was erpressen, aber er weiß nie, wie er’s machen soll. – Er ist von unten. Aus Prag. – Da sind sie alle so ähnlich. – Ich glaub’, das kommt von der geheimnisvollen Luft, die aus dem Boden steigt. – Alle werden sie im Lauf der Zeit so wie er. Einer früher, einer später, außer sie sterben vorher. – Wenn einer dem anderen begegnet, grinst er hämisch, bloß damit der andere glaubt, man weiß was über ihn. – Hast d’ es noch nie bemerkt, Buberl“ – sie wurde seltsam unruhig und begann ruhelos im Zimmer hin und her zu wandern – „dass in Prag alles wahnsinnig is? Vor lauter Heimlichkeit? – Du bist doch selbst verrückt, Buberl, und weißt es bloß nicht! – Freilich, hier oben auf dem Hradschin, da is eine andere Art Wahnsinn. – Ganz anders als unten. – So – so mehr ein versteinerter Wahnsinn. – Wie überhaupt hier oben alles zu Stein geworden ist. – Aber wenn’s einmal losbricht, dann is es, wie wenn steinerne Riesen plötzlich anfangen zu leben und die Stadt in Trümmer schlagen – hab ich“ – ihre Stimme sank zu leisem Gemurmel herab – „hab’ ich mir als kleines Kind von meiner Großmutter sagen lassen. – Ja, na ja, und der Stefan Brabetz, der riechts wahrscheinlich, dass hier auf dem Hradschin irgendwas in der Luft is. Irgendwas los.“
Der Student verfärbte sich und blickte unwillkürlich scheu nach der Tür. „Wieso? Was soll los sein?“
Die „böhmische Liesel“ redete an ihm vorbei: „Ja, glaub mir, Buberl, du bist jetzt schon verrückt. – Vielleicht willst du wirklich Kaiser der Welt werden.“ – Sie machte eine Pause. „Freilich, warum soll’s nicht möglich sein? – Wenn’s in Böhmen nicht so viele Wahnsinnige gäb’, wie hätTs sonst immer der Herd der Krieg sein können! – Ja, sei nur verrückt, Buberl! Dem Verrückten gehört am Schluss doch die Welt. – Ich bin ja auch die Geliebte vom König Milan Obrenowitsch gewesen, bloß weil ich geglaubt hab’, dass ich’s werden kann. – Und wieviel hat gefehlt, wär’ ich Königin von Serbien geworden!“ – Es war, als erwache sie plötzlich – „Warum bist du eigentlich nicht im Krieg, Buberl? – So? Einen Herzfehler? – Noja. – Hm. – Und warum meinst du, bist du kein Boriwoj?“ – Sie ließ es nicht zur Antwort kommen – „Und wohin gehst du jetzt, Buberl, da mit der Geige?“
„Zur Frau Gräfin Zahradka. Ich soll ihr vorspielen.“
Die Alte sah überrascht auf, studierte wieder lang und aufmerksam den Gesichtsausschnitt des jungen Mannes und nickte dann, wie jemand, der seiner Sache gewiss ist. „Ja. Hm. Boriwoj. – No, und hat sie dich gern, die Zahradka?“
– „Sie ist meine Patin.“
Die „böhmische Liesel“ lachte laut auf: – „Patin, hähä, Patin!“
Der Student wusste nicht, wie er sich das Gelächter deuten solle. Er hätte seine Frage nach Jan Zizka gern wiederholt, aber er sah ein, dass es vergeblich wäre.
Er kannte die Alte zu lange, um nicht aus ihrer plötzlich ungeduldig gewordenen Miene zu entnehmen, dass sie wünschte, die Audienz beendet zu sehen. —
Mit einem verlegen gemurmelten Dank drückte er sich zur Tür hinaus.
Er war kaum des alten im Abendrot träumenden Kapuzinerklosters, an dem er auf seinem Wege zum Palais der Gräfin Zahradka vorbei musste, ansichtig geworden, da erklang dicht nebenan, als wolle es ihn begrüßen, gleich einem zauberhaften Orchester von Äolsharfen, das ehrwürdige Glockenspiel der St.– Loretto-Kapelle und zog ihn in seinen magischen Bann.
Eingehüllt von melodisch schwingenden Luftwellen, die ihn umfingen