1939)
1
Ostoberschlesien, Region Kattowitz
09:15 Uhr
»Ich zähle jetzt bis drei. Entweder du kommst raus, oder die Bude fliegt dir um die Ohren!«
Die Drohung verhallte ungehört. Kein Laut, auch nicht das leiseste Geräusch. Jetzt war guter Rat teuer. Auf die Tour kam er hier nicht weiter.
Aber egal. Er konnte auch anders. Die Rotzgöre würde sich noch wundern. Wenn sie nicht spurte, na wenn schon. Dann war es das eben gewesen. Wie du mir, so ich dir. Da kannte er nichts. Auch wenn sich das Luder querstellte, er saß am längeren Hebel. Wer nicht für die SS war, der war gegen sie.
Hopp oder topp.
Sie hatte die Wahl.
An der unsichtbaren Front, das würde die Kleine noch zu spüren bekommen, herrschten andere Gesetze. Ihn nach Strich und Faden verarschen, das würde ihr so passen. Da musste sich das Miststück einen Dümmeren suchen.
Die Schlampe war reif, so reif wie noch was.
Aber gewieft bis zum Gehtnichtmehr. Ein Grund mehr, vor ihr auf der Hut zu sein.
»He, du da drin, bist du taub, oder was?« Nichts ging mehr. Die Mühe hätte er sich sparen können. Aus dem Kühlschuppen, wo sich das gerissene Weibsstück verbarrikadiert hatte, drang kein Laut zu ihm nach draußen. »Mach kein Theater, du hast sowieso keine Chance!«
Der Uniformierte in Feldgrau, laut Ärmelraute Unteroffizier des SD der SS, nahm Anlauf und trat mit voller Wucht gegen die Tür. Egal wie, für die Frechheit würde das Luder büßen. Erst machte es ihm schöne Augen, und dann, nachdem die Masche nicht funktioniert hatte, kratzte es einfach die Kurve.
Der 26-jährige Blondschopf, Arier wie aus der Rassekundefibel, fluchte halblaut vor sich hin. Das hatte er nun davon. Peinlich, wenn er sich von so einer hinters Licht führen ließ. Absolut peinlich. Aber was konnte man von Juden auch erwarten. Im Guten kam man bei dem Pack nicht weiter.
»Mach keine Zicken, die Nummer zieht bei mir nicht!« Von wegen Leute wie du und ich. Das Gesocks hatte es faustdick hinter den Ohren. Egal wo, es lief überall aufs Gleiche raus. Die Juden verstanden nur eine Sprache, nämlich die des Stärkeren. Wer das Gegenteil behauptete, der war bekloppt.
Mitleid?
Auch nicht die Spur davon.
Wenn er eins gelernt hatte, dann dies: Vor dem Abschaum musste man sich in Acht nehmen. Sonst landete man auf der Schnauze.
Am besten, er machte Nägel mit Köpfen, fackelte nicht lange, trat die Tür ein und zeigte dem Flittchen, was Sache war. Falls es sich noch nicht herumgesprochen hatte, mit der SS war nicht zu spaßen.
Und mit ihm, dem Unterscharführer z.b.V., schon gar nicht. Je eher die Göre das einsah, desto besser. Falls nicht – nun ja, auch egal. Die Kleine würde den Kürzeren ziehen.
So oder so.
Und dort landen, wo sie hingehörte – hinter Gittern. Aber nur, wenn sie Glück hatte.
Wenn nicht, ihr Problem.
Ein Schuss aus seiner 08, aus kürzester Distanz, im Idealfall schräg von oben. Ohne viel Tamtam – und ohne groß zu überlegen. Hart bleiben, kontrolliert handeln, die Emotionen auf den Gefrierpunkt runterfahren. Und Skrupel, so es sie gab, ignorieren.
So weit also Regel Nummer eins.
Falls das nichts half, auf Pervitin war Verlass. Es hieß zwar, es gäbe Leute, bei denen das, was hier ablief, keine Spuren hinterließ. Mag sein, da war etwas dran, aber wozu sich den Kopf zerbrechen, wenn es einfacher ging. Ein, zwei Pillen, und die Welt sah wieder anders aus. Ein Lob auf den Herrn Stabsarzt, die Dinger hatten es in sich. Wirkten wahre Wunder, je größer die Dosis, desto weniger Fracksausen. Und falls mal keine zur Hand waren, ein Schluck aus dem Flachmann tat es auch. In der Not fraß der Teufel bekanntlich Fliegen – und der Landser soff sich einen an.
Oder pumpte sich bis zum Anschlag mit Drogen voll.
Im Dienst oder nicht, betäubt lebte es sich nun mal besser.
So weit, Herr Unterscharführer, Regel Nummer zwei.
»Na schön, du miese kleine Hure, ich habe dich gewarnt.« Hart sein, den inneren Schweinehund überwinden, die Befehle ohne Wenn und Aber ausführen. Ob besoffen oder unter Drogen, da musste er durch. Schwächlinge waren hier absolut fehl am Platz.
»Wart’s ab, dir werde ich die Flausen austreiben.« Allmählich hatte er die Faxen dicke. Befehl war schließlich Befehl. Ärger hatte er schon genug am Hals.
Regel Nummer drei: Besser, du heulst mit den Wölfen. Dann sparst du dir eine Menge Scherereien.
Na dann mal los, bringen wir es hinter uns.
Exekution per Genickschuss, und die Sache ist geritzt.
Wäre doch gelacht, wenn er mit der Zicke nicht fertigwerden würde. Und überhaupt: Eine Tote mehr, wen juckte das schon. Dies war der dritte Einsatz innerhalb von acht Tagen, eine Aktion der besonderen – oder besser: der heiklen – Art. Das Kommando war überall dort aufgetaucht, wo es brenzlig wurde, und was die Zivilisten betraf, die dabei draufgingen, das ging ihm sonst wo vorbei. Allein heute, acht Tage nach dem Einmarsch, waren es Dutzende, wenn nicht gar Hunderte gewesen, darunter Frauen und Kinder, Letztere in der Mehrzahl. Wozu dann das Kopfzerbrechen, im Krieg herrschten andere Gesetze. Eine Tote mehr oder weniger, darauf kam es doch nun wirklich nicht mehr an.
Ein Judenbalg, der dran glauben musste. Wen außer ein paar Klageweibern interessierte das schon. In ein paar Tagen würde kein Hahn mehr nach der Kleinen krähen.
Jede Wette.
»Na schön, du hast es so gewollt!« Dann eben nicht. Er konnte auch anders. Nur noch zwei, drei Handgriffe, ein kurzer, aber heftiger Ruck an der Abrissschnur, Deckung auf der Kellertreppe, damit er nichts abbekam, in Erwartung des Feuerzaubers von zehn zurück bis null zählen – und der Göre würde Hören und Sehen vergehen.
Stilhandgranaten waren doch was Feines, für knifflige Fälle wie geschaffen.
Und überhaupt, die Polen. In dem Punkt hatte er noch eine Rechnung offen. Er war sich im Klaren, was auf ihn zukam, anders als so mancher, der zu naiv war, um eins und eins zusammenzuzählen. Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente im Rücken der kämpfenden Truppe, insbesondere Spionageabwehr, Festnahme von politisch unzuverlässigen Personen, Beschlagnahme von Waffen, Sicherstellung von geheimen, militärisch bedeutsamen Unterlagen – so weit zumindest Heydrich, Chef der SIPO und des SD, Himmlers Hirn und nimmermüder Dämon. Was der Mann, vor dem selbst der Reichsführer kuschte, damit meinte, nun ja, das konnte man sich denken. Die Jagd war eröffnet, und was katholische Pfarrer, den Adel, Kommunisten und die sogenannten Intellektuellen betraf, mit denen wurde kurzer Prozess gemacht. Alles Abschaum, der es nicht verdiente, dass man sich mit ihm abgab, die Juden – um den Todfeind beim Namen zu nennen – nicht zu vergessen. Im Ganzen an die 60.000 Reichsfeinde, die wie Freiwild zu Tode gehetzt wurden, mit Billigung von ganz oben, damit auch alles seine Richtigkeit hatte.
Mit anderen Worten, es gab viel zu tun.
Eine Jüdin unter vielen, wen kümmerte das schon.
Eins durfte man nämlich nicht vergessen. Die Polen hatten seinen Vater auf dem Gewissen. Im entscheidenden Moment war der Leiter der Musikhochschule in Danzig am falschen Ort gewesen und in eine Schießerei zwischen der Bürgerwehr und polnischen Milizen geraten. Das hatte ihn das Leben gekostet, einfach so, weil er per Zufall zwischen die Fronten geraten war. Der gestrengen Mutter, Klavierlehrerin und heimliche Herrscherin im repräsentativen Domizil am Dominikanermarkt, war daraufhin nichts anderes übriggeblieben, als die Zügel selbst in die Hand zu nehmen. Eine Weile hatte sie sich und die vierköpfige Familie über Wasser halten können, doch nur wenige Jahre später, nach dem Zusammenbruch der Börse in New York, war es mit rasender Geschwindigkeit bergab gegangen. Die Schüler blieben aus,