Uwe Klausner

Operation Werwolf - Blutweihe


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      Vor zehn Jahren, kurz vor seinem 19. Geburtstag, brach seine Welt endgültig zusammen. Aufgrund des Votums eines jüdischen Sachverständigen hatte der Magistrat der Freien Stadt Danzig dem privaten Institut die Anerkennung entzogen. Für das Konservatorium bedeutete das den finanziellen Ruin, für seine Mutter den Anfang vom Ende ihres Lebens. Exakt ein Jahr nach dem Tag des Zorns hatte die stets spröde und distanziert wirkende Tochter aus alteingesessenem Haus Suizid begangen. Tod durch Erdrosseln, herbeigeführt mithilfe einer Klaviersaite, wie sollte es auch anders sein.

      Er selbst hatte sich wieder hochgerappelt, mühsam zwar, doch mit unermüdlicher Energie. Vergessen war die Heimsuchung jedoch nicht – bis heute, mehr als ein Jahrzehnt danach. Der Tag der Abrechnung war gekommen, und es gab niemanden, der ihm jetzt, wo es ans Eingemachte ging, in die Quere kommen würde.

      Ein Juden-Flittchen, das um Gnade winselte, schon gar nicht.

      Die Handgranate scharf machen, von zehn rückwärts bis null zählen und abwarten, was passierte.

      Um der Göre eine Lektion zu erteilen.

      Und zwar eine, die sie nicht vergaß.

      Na dann mal los, die Zeit drängte. Viel Feind’, das wussten schon die Altvorderen, viel Ehr’.

      Ein Schluck aus dem Flachmann, dann konnte es losgehen.

      Zehn, neun…

      Und außerdem, eins durfte man nicht vergessen. Er und die Kameraden vom »Kommando Werwolf«, nur knapp drei Dutzend Auserwählte, in puncto Kaltblütigkeit jedoch ohne Beispiel, alle miteinander mussten sie ihren Mann stehen. Denn einer musste die Dreckarbeit ja machen, wenn schon nicht die Generalstäbler in Zossen, dann eben die Treuesten der Treuen, Himmlers Eingreiftruppe hinter der Front. ›Meine Ehre heißt Treue‹, so stand es auf der Gürtelschnalle der SS geschrieben. Egal, was passierte, ob abseits des Kampfgeschehens oder in vorderster Linie. Was das betraf, waren die Rollen klar verteilt. Hier die vier Einsatzgruppen, wenn es hochkam, maximal 3.000 Mann, bis in die Zehenspitzen motiviert, darunter SD, Zielfahnder der Kripo, SIPO oder Waffen-SS. Und weiter vorn, bei der kämpfenden Truppe, die Bilderbuch-Soldaten, sprich: all jene, die es nicht abwarten konnten, in die Wochenschau zu kommen. Die nicht genug Mumm besaßen, reinen Tisch zu machen, und sich obendrein für etwas Besseres hielten. Für nichts und wieder nichts in den Schlagzeilen, so gut hätte er es mal haben sollen. Um im Anschluss, als Belohnung für ihre Ruhmestat, mit dem Ritterkreuz dekoriert zu werden.

      So einfach war das.

      Ein Orden, das wäre es gewesen. Eichenlaub mit Schwertern und Brillanten zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.

      Acht, sieben …

      Aber davon, wie von einem Auftritt in der Wochenschau, im Hintergrund das Schmettern der Siegesfanfaren, konnten er und der Rest der Truppe nur träumen. Was hier ablief, das hatte mit Landser-Romantik nichts zu tun. Nicht im Geringsten. Geheime Reichssache, das sagte ja schon alles. Als ob man den Einsatz, der unweigerlich in ein Massaker ausarten würde, auf Dauer hätte verheimlichen können. Hier, auf einem tristen Hinterhof in einer noch tristeren Kleinstadt im polnisch besetzten Teil von Schlesien, wo knapp die Hälfte Juden waren, hier wurde nicht lange gefackelt. Hier wurden Nägel mit Köpfen gemacht, und wem das nicht passte, für den würde es ein böses Erwachen geben.

      Sofern er die Blutweihe überlebte.

      Sechs, fünf …

      Ein Judenflittchen mehr oder weniger, wen kümmerte das schon.

      Die Hand am Futteral seiner 08, atmete er hastig durch. Der Tag, an dem er es den Polacken zeigen würde, war gekommen, und kein Hahn würde danach krähen. Schon gar nicht die Briten und Franzosen, die zwar groß rumgetönt, bislang aber keinen Finger gerührt hatten. Im Westen Sitzkrieg, und im Osten Blitzkrieg, so lautete die Losung für den Tag.

      Und wenn sie sich noch so sehr ins Zeug legten, die Polacken würden den Kürzeren ziehen. Nur noch ein, zwei Wochen und die Sache war gelaufen.

      Jede Wette.

      Vier, drei …

      Aus sicherer Entfernung, die Mauser DRP 98 im Anschlag, richtete er den Blick nach vorn. Die Wolken, rußfarben wie der Putz, der von den Wänden der baufälligen Mietshäuser abblätterte, spiegelten sich auf dem mit Öllachen übersäten Hof, und aus der Ferne hallten Schreie und Gewehrsalven an sein Ohr. Weiter nördlich, unweit des Flusses und dem Gekreische nach zu urteilen nur eine Querstraße entfernt, musste die Synagoge liegen, und es bedurfte keiner Fantasie, um sich das, was dort ablief, vor Augen zu führen. Am renitentesten, das zum Thema Erfahrung, waren nicht etwa die Vogelscheuchen im Kaftan, in der Mehrzahl Graubärte, die sich wie Vieh zur Schlachtbank treiben ließen. Mit wenigen Ausnahmen, das lehrte die Erfahrung, wussten die Betbrüder mit den Ringellocken Bescheid. Gott Jehova, so es ihn denn gab, hatte sie im Stich gelassen. An Widerstand war nicht zu denken, und wer nicht auf den Kopf gefallen war, wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Und fügte sich in sein Schicksal. Die Frauen freilich, die Judengöre im Kühlschuppen eingeschlossen, waren aus gänzlich anderem Holz geschnitzt.

      Zwei, eins …

      Veranstalteten ein Tamtam, dass dir Hören und Sehen verging.

      Zogen sämtliche Register, um dem Teufel von der Schippe zu springen.

      Nur noch mal kurz Luft holen, dann ging es zur Sache. Getreu dem Befehl, hart durchzugreifen, würde er nicht lange fackeln. Und im Anschluss möglichst schnell die Fliege machen. Schließlich wusste man ja nie, er wäre nicht der Erste, den man wegen Übergriffen auf Zivilisten vor den Kadi gezerrt hätte. Aber was soll’s, damit musste er in seiner Situation rechnen. So war nun mal der Lauf der Welt, und wer keine Scheuklappen trug, der wusste, wie der Hase lief. Einmal angenommen, der Krieg ginge verloren – schwer vorstellbar, wenngleich nicht gänzlich auszuschließen –, dann würden sie für das, was sie hier anrichteten, zur Verantwortung gezogen werden.

      Und dann Gnade ihnen Gott.

      Eins und die …

      Verflucht, jetzt wurde es aber langsam Zeit.

      Mag sein, er bildete sich das nur ein, aber wie er so auf der verrußten Kellertreppe kauerte, da war ihm, als läge Blutgeruch in der Luft, vermischt mit dem Gestank, der aus der Tür der Metzgerei ins Freie drang.

      Koscheres Fleisch, zum Abgewöhnen.

      Also wirklich, diese Brut hatte den Leibhaftigen im Leib. Am besten, man jagte das ganze Viertel in die …

      Null!

      Die Explosion, die wie der Einschlag eines Blitzbündels von den Wänden widerhallte, war stärker als erwartet, und es dauerte, bis sich der beißend scharfe Qualm verzog. Wie erwartet war der Hof von Trümmerteilen übersät, und um zum Schuppen zu gelangen, musste er über verkohlte Balken, Schutt und Backsteinhaufen klettern. Die Luft, eine Mischung aus Staub, verbranntem Fleisch und Rußpartikeln, die wie Schneeflocken auf ihn herabrieselten, raubte ihm fast den Atem, und wie der Blick auf eine zerborstene Fensterscheibe bewies, waren die Schweißringe unter der Uniformjacke nicht zu übersehen.

      Und seine Atemzüge, die von einer Turbulenz in die nächste taumelten, nicht zu überhören.

      Es war Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Wider sonstige Gewohnheiten hatte er Muffe. Und das wahrhaftig nicht zu knapp. Warum gerade hier und nicht irgendwo anders, konnte er sich nicht erklären.

      An der Schlampe, die ihn mit schreckgeweitetem Rehblick musterte, konnte es jedenfalls nicht liegen. Dem Anschein nach zu urteilen war die Kleine höchstens 17, wenn nicht gar jünger. Ihrem Aussehen, das ihn an eine Orientalin erinnerte, tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Je länger er die im Erblühen begriffene Schönheit betrachtete, die sich laut hustend vom staubbedeckten Boden aufrappelte, wie von Sinnen vor ihm zurückwich und den Rücken an die schwarz-weiß gekachelte Wand presste, desto ungestümer der Drang, der von ihm Besitz ergriff. Und desto heftiger das Pulsieren in den Lenden, gegen das kein Kraut gewachsen schien. Es war schon eine Weile her, seit er eine Frau an Land gezogen hatte – nichts Ernstes, ein harmloses Techtelmechtel. Der übliche Ringelpietz mit Anfassen, zu mehr war