Günther Thömmes

Das Erbe des Bierzauberers


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wälzte sich der Rhein durch sein Bett. Niemals hätte sich Georg so etwas Gewaltiges vorstellen können. Das größte Abenteuer seines Lebens war, mit der Fähre überzusetzen. Er hatte furchtbare Angst, war jedoch andererseits fasziniert davon, über diesen riesigen Fluss zu fahren. Fafnir bellte und war begeistert, hauptsächlich deswegen, weil die Gerätschaften an Michels Karren während der Überfahrt klapperten und lärmten.

      Drüben angekommen, hielten sie sich nach Süden, sie fuhren durch viele Dörfer, in denen die Menschen Weinreben anbauten. Überall gab es etwas zu tun.

      Michel kehrte häufig in Gasthöfen ein und trank auch gerne mal ein Glas Wein über den Durst. Je wärmer es wurde, desto durstiger wurde er.

      Er achtete nach wie vor darauf, dass er seine Arbeit ordentlich erledigte, aber manchmal war es schon lustig anzuschauen, wie er mit hochrotem, wackelndem Kopf schwankend auf seinem Karren saß und Trinklieder sang.

      Auf ihrem Weg weiter rheinaufwärts sahen sie am Straßenrand zusammengekrümmt ein Bündel Mensch liegen. »Schauen wir einmal nach, was mit dem los ist«, sagte Michel. »Nicht, dass der überfallen und totgeschlagen wurde.« Sie stiegen vom Bock, beugten sich herunter und drehten den Körper um, der daraufhin ein schmerzvolles Gejammer hören ließ. »Na, zum Glück ist er nicht tot. Was ist mit dir geschehen?«, fragte Michel den Jungen, der immer noch kein Wort gesagt hatte. Er schaute ihn genauer an und sah überall Spuren von Schlägen, die Hände und Arme bluteten, der Kopf war voller Beulen. Michel riss ihm die Reste des sowieso nur noch in Fetzen herunterhängenden Hemdes vom Oberkörper und stieß einen überraschten Schrei aus. Der bestenfalls 14-jährige Junge sah aus, als hätte ihn jemand zu Tode prügeln wollen. Am ganzen Oberkörper gab es keine Stelle, die nicht malträtiert worden wäre.

      »Wer ist das gewesen?«, fragte Michel, in dem Zorn aufwallte. Auch wenn es ihm Kundschaft brachte, diese Art von Gewalttätigkeit verabscheute er zutiefst.

      Seltsam blassblaue Augen, die beinah durchsichtig wirkten, schauten ihn fragend an. Die kurzen, unregelmäßig stoppeligen Haare des Jungen sahen aus, als wären sie zuletzt mit einem sehr stumpfen Messer gestutzt worden.

      »Und warum?«, vollendete Michel seine Frage.

      Endlich öffnete der Junge den Mund: »Daniel Fischer!«, waren die beiden einzigen Worte, die er herausbrachte, bevor er erneut zusammenbrach.

      Michel und Georg räumten schnell einen Teil des Wageninhalts beiseite, hoben ihn vorsichtig hinten drauf und betteten ihn behutsam. Michel behandelte die schlimmsten und offensichtlichsten Wunden und flößte ihm einen Schluck Wein ein.

      »Das wird alles wieder heilen«, beruhigte er den Jungen.

      »Nur deine Nase, die hat es schlimm erwischt.« Die war in der Tat regelrecht schräggehauen worden. Ohne Zweifel gebrochen, würde sie nie wieder gerade stehen.

      Michel versuchte, die Nase ein wenig zu richten, erntete aber nur Schmerzgeschrei und hörte bald wieder auf.

      »Das wird er überleben. Es gibt Schlimmeres als eine krumme Nase.«

      Während der folgenden Stunden der Weiterfahrt schlief Daniel Fischer tief und fest. Zur nächsten Rast öffnete er die Augen und sah bereits erheblich besser drein als vorher.

      »So, Daniel, nun erzähl mal genau, was dir passiert ist.« Michel platzte fast vor Neugierde.

      »Mein Name ist nicht Daniel, wie kommt ihr darauf?«, sagte der Junge. »Ich heiße Bertram und bin Brauergehilfe. Besser gesagt, ich war es, bis heute morgen. Und zwar bei Daniel Fischer.«

      »Ist das der Kerl, der dich so zugerichtet hat?«

      Bertram nickte.

      »Na, mit dem sollten wir mal ein ernstes Wort reden. Wo finde ich den Mistkerl?«

      »In Straßburg, aber das ist nicht der Ort, wo ich wieder hin zurückgehen möchte.«

      »So, so, Straßburg, das ist nicht mehr weit.« Michel wiegte wieder einmal seinen Kopf hin und her. »Was hast du denn angestellt, dass du so vertrimmt wurdest?« Er hatte mittlerweile festgestellt, dass Bertrams Wunden zwar schlimm aussahen und ohne Zweifel sehr schmerzhaft waren, jedoch zum Glück nicht lebensgefährlich. Er würde sich schon wieder aufrappeln. Da schadete es nichts, einmal zu erfahren, ob er die Prügel nicht unter Umständen sogar verdient gehabt hatte.

      Bertram sah aus, als würden ihm jeden Moment die Tränen kommen. »Ich bin eingeschlafen bei der Arbeit. Wir hatten am Vortag von früh bis spät das Feuer geschürt, Holz herangetragen und aufgepasst, dass das Feuer nicht kleiner wird. Nach einer sehr kurzen Nacht musste ich heute Morgen auf die Biersteine achtgeben und sie im rechten Moment heranschleppen. Beim Warten darauf bin ich eingenickt und habe die Biersteine zu spät ins Brauhaus gebracht. Und was dann passiert ist, davon habt Ihr Euch ja selbst überzeugen können.«

      Georg verstand überhaupt nicht, wovon er redete. Brauergehilfe, Biersteine, Brauhaus, was sollte das? Und überhaupt, wer bei der Arbeit einschlief, verdiente doch eine Tracht Prügel!

      Michel und Bertram diskutierten noch eine Weile weiter, und da Michel nach Straßburg wollte, bedankte und verabschiedete Bertram sich schließlich und ging langsam, bedächtig und mit schmerzverzerrtem Gesicht rheinabwärts die Straße entlang, nur weg von Straßburg.

      Daniel Fischer

      Die Freie Reichsstadt Straßburg geht auf eine Gründung des römischen Kaisers Augustus zurück. Die etwa 10.000 Menschen waren stolz darauf, in einer der ältesten und gleichzeitig kleinsten Republiken des Heiligen Römischen Reiches zu leben.

      Das öffentliche Leben war wesentlich interessanter als in anderen vergleichbaren Städten. Zum großen Teil war das zurückzuführen auf den Jahrhunderte dauernden Streit zwischen den beiden bedeutendsten Straßburger Patriziergeschlechtern, den Müllenheims und den Zorns. Deren Rivalität um die Vormacht war mehr als ein Mal in regelrechten Straßenschlachten ausgefochten worden. Bei einer dieser Auseinandersetzungen hatten 146 Zeugen ihre Berichte zu Protokoll gegeben und bestätigt, dass sogar Geistliche beider Familien aufeinander eingeschlagen hätten. Für das Rathaus der Stadt waren kurioserweise – und einzigartig in Europa – zwei Eingänge eingerichtet worden, einer für die Müllenheims, einer für die Zorns. Sie gingen sich aus dem Wege, wo sie nur konnten, sogar am Flüsschen Ill, das durch Straßburg fließt, waren die Ufer nach Familien geteilt: Es gab einen Kai Müllenheim und einen Kai Zorn.

      Straßburg blickte nicht nur auf eine lange Geschichte zurück, sondern war auch eine kulturelle Hochburg. Vergessen waren die finsteren Zeiten, als 1349 bei einem der größten Pogrome des Mittelalters bis zu 3.000 Juden öffentlich verbrannt und die Überlebenden der Stadt verwiesen worden waren. Zwar war es Juden immer noch bei Todesstrafe untersagt, sich des Nachts innerhalb der Stadtmauern aufzuhalten, tagsüber jedoch liefen alle Geschäfte wieder ihren geregelten Gang. Der Drucker Johannes Mentelin hatte zwei Jahre zuvor in Straßburg die erste Bibel in deutscher Sprache gedruckt und war dafür von Kaiser Friedrich III. mit einem Wappen belohnt worden. Dadurch hatte er, zusammen mit dem Straßburger Münster, dem höchsten Gebäude der Welt, den Ruhm der Stadt durch das ganze Reich getragen.

      Während auf der anderen Seite des Rheins sowie im Sundgau, südlich von Straßburg, im sogenannten Waldshuterkrieg eidgenössische Truppen plündernd und marodierend durch die Gegend zogen und zahlreiche Dörfer dem Erdboden gleichmachten, um es den österreichischen Adligen, die sich im Namen der Habsburger dort wie die Raubritter aufführten, heimzuzahlen, herrschten in Straßburg Zufriedenheit und Optimismus.