Monaten im Amt, und so ist es derzeit noch schwer, seine Reaktion auf derartige Anschuldigungen einzuschätzen.«
»Ihr habt recht.« Urplötzlich schlug die Stimmung des Würdenträgers um. Mit einem Mal wirkte er nachdenklich. »Was schlagt Ihr vor, Ignatius?« Erzbischof Siegfried blickte erwartungsvoll auf.
»Nun ja«, der Geistliche schluckte etwas gekünstelt und zog die Stirn in nachdenkliche Falten. »Eine Versetzung scheint mir das rechte Mittel. An einen Ort, wo er Euch von nun an nicht schaden kann.« Der Erzbischof hob interessiert die linke Augenbraue. »Ich hörte jüngst, dass der Abt zu Brauweiler einen Stellvertreter sucht. Bruder Urban wurde erst kürzlich heimgerufen, und so ist die Stelle des Priors derzeit unbesetzt. Darüber hinaus verarmt das Benediktinerkloster zusehends. Es scheint mir daher der rechte Ort zu sein, an dem ein Sünder seine Geld- und Machtgier bereuen kann. Abt Heinrich ist Euch seit Jahren treu ergeben, sodass er Eurem ›Wunsch‹ vorbehaltlos und ohne Widerspruch entsprechen wird.«
Für einen Moment schaute Erzbischof Siegfried zufrieden drein. Urplötzlich schlug seine Nachdenklichkeit wieder in Tobsucht um. »Prior?«, schrie er. »Wir wollen den Kerl nicht belohnen! Diese Aufgabe ist nur etwas für einen meiner treuesten Diener. Bruder Mattäus wird der stellvertretende Abt zu Brauweiler!« Sogleich nahm seine Stimme wieder einen ruhigeren Tonfall an, und ein süffisantes Lächeln huschte über sein Gesicht. Nachdenklich rieb er sich mit dem Zeigefinger die etwas zu lang geratene Nase. »Wir werden Prior Mattäus natürlich nicht allein nach Brauweiler entsenden. Er benötigt gewiss einen persönlichen Schreiber, der ihn, dank seiner Erfahrung, insbesondere bei den lästigen und mühsamen Arbeiten seines neuen Amtes unterstützen kann.«
*
Nach einem kurzen Wortwechsel mit den Wachen der Ober Pfortz setzte das Fuhrwerk seine Fahrt fort. Marcus überlegte, ob er einfach vom fahrenden Wagen springen solle. Doch was würde passieren, wenn ihn der Kutscher bei seinem Fluchtversuch entdecken würde?
Schon kurze Zeit später hörte Marcus entferntes Stimmengewirr und die Geräusche geschäftigen Treibens. Das Lager! Die Leute in den Neusser Gassen erzählten sich schon seit Tagen, dass Truppen vor den Toren aufgezogen waren. Anfänglich hegte man die Sorge, die Stadt würde belagert. Doch bald schon verbreitete sich die Kunde, dass sich dort nur eine Reihe von Grafen und Landesfürsten mit ihren Männern sammelten, die keinerlei kriegerische Pläne die Stadt Neuss betreffend hatten. Wenn sie auch eher nicht in friedlicher Absicht zusammentrafen.
Die Bauern, die in die Stadt kamen, wussten von Luxemburgern, den Männern des Grafen Rainald von Geldern und der Herren von Plettenberg zu berichten. Auch Dietrich ›Luv‹ von Kleve mit seinen Leuten solle dabei sein, erzählte man sich im ›Schwarzen Krug‹. Die schwer bewaffneten Reiter des Erzbischofs Siegfried von Köln hatte Marcus hingegen sogar mit eigenen Augen auf dem Markt der Stadt gesehen. Ganz Eifrige wussten zu berichten, dass die Zahl der streitbaren Männer bereits auf weit über 4.000 Kämpfer angewachsen war.
Unvermittelt hielt das Gespann an. Vorsichtig hob Marcus die stinkenden Felle, sodass er sich durch den entstandenen Spalt umschauen konnte. Seine Vermutung bestätigte sich: Er befand sich inmitten des Lagers. Was würde passieren, wenn die Männer die Felle abladen und ihn hier auf der Ladefläche bemerken würden? Rasch reckte Marcus sich nach der Wagenkante und zog sich aus seinem Versteck. Mit einer Drehung glitt er von der Ladefläche und landete auf den Beinen. Zur gleichen Zeit war der Kutscher vom Bock gestiegen und stand nun neben ihm.
»Kann ich Euch helfen, werter Herr?« Marcus setzte den unschuldigsten Gesichtsausdruck auf, den er zustande brachte.
»Du kannst die Felle vom Wagen schaffen«, entgegnete der Kutscher. »Glaub nicht, dass ich dich hierfür entlohnen werde«, schob er hastig nach. Mit misstrauischem Blick starrte er auf Marcus. Wo war dieser unerwartete Gehilfe nur so plötzlich hergekommen?
Um keinen Verdacht zu erwecken, begann Marcus unverzüglich und ohne ein weiteres Wort mit der Arbeit.
»Leg mir die guten Stücke nicht dort in die Pfützen! Hier drüben ist es trockener.« Mit diesen Worten wandte sich der Klotz von Marcus ab und ging nach vorn, um nach dem Pferd zu sehen.
»He, du!« Marcus spürte plötzlich eine kräftige Hand auf seiner rechten Schulter. »Wenn du abgeladen hast, kannst du das stinkende Zeug zu unseren Zelten schaffen. Dein Herr wird bei dem Wucherpreis, den er von uns für die gammeligen Fetzen verlangt, gewiss nichts dagegen haben, wenn du uns noch ein wenig zur Hand gehst.«
Marcus drehte sich erschrocken um. Vor ihm stand ein hünenhafter Ritter, dessen schmieriger Wappenrock offensichtlich seit Monaten nicht mehr mit Schlagbrett und Wasser in Berührung gekommen war. Der Kerl stank nicht minder als die Felle, die Marcus Stück für Stück vom Wagen zerrte. In seinem breiten Ledergürtel steckte der Schaft eines gewaltigen Morgensterns. Die schwere, mit langen Stacheln versehene Eisenkugel baumelte an einer frisch geölten Kette. Die Waffe schien das Einzige zu sein, was der Mann regelmäßig pflegte.
»Was glotzt du so?«, fuhr der Bewaffnete ihn an. »Mach, dass du fertig wirst. Wir wollen nicht den ganzen Tag auf dich Faulpelz warten müssen.« Dabei versetzte er Marcus eine tüchtige Ohrfeige und ging wortlos davon. Der Getroffene rieb sich die schmerzende Gesichtshälfte, die augenblicklich anschwoll. Verärgert schaute er dem Hünen nach. Hatte er zunächst die Lust verspürt, den Kerl mit ein paar kräftigen Fausthieben zu zeigen, dass er kein kleiner Junge war, mit dem man so umspringen konnte, hatte er sich sogleich darauf besonnen, nicht weiter aufzufallen. Schließlich war er ein vermeintlicher Reliquiendieb und Mörder auf der Flucht. Um eine weitere Auseinandersetzung zu vermeiden, würde er zukünftig einfach einen großen Bogen um den Ritter machen. Er würde ihm schon von Weitem auffallen, dachte Marcus angesichts des ungewöhnlichen Wappenrocks. Waren die meisten schlicht, oft nur einfarbig, so hob sich dieser durch seine besondere Aufteilung von den anderen ab. Der weiße Grund, der sich unter dem Schmutz der Kleidung nur erahnen ließ, war durch einen dunkelroten gezackten Brustring geteilt. Der farbige Streifen war mit einer guten Elle außerordentlich breit.
Nachdem Marcus das letzte Stück von der Ladefläche des Wagens gezogen hatte, machte er sich eilig daran, die ersten Felle in die Richtung zu tragen, in die der Riese verschwunden war. Auch wenn er sich fest vorgenommen hatte, dem Kerl aus dem Weg zu gehen, so musste er die übel riechende Ware zu ihm schaffen, um keine weitere Ohrfeige zu riskieren. Marcus hoffte, dass der Mann auf jede weitere Provokation verzichten würde und ihn unbehelligt seine unerwartete Arbeit verrichten ließe.
Kurze Zeit später erschien ein anderer Ritter am Fuhrwerk. Auf seinem Wappenrock prangte der gleiche rote Streifen, den der Hüne auf seiner Brust getragen hatte. Schon an der Gangart des Recken erkannte der Kutscher von Weitem, was ihm die ordentliche Fahne des Mannes bestätigte, als er nun einen Schritt vor ihm stand. Der Kerl hatte sich offenbar die Zeit mit einigen Bechern Branntwein vertrieben und sich einen ordentlichen Rausch angesoffen, der jeden anständigen Mann aus den Stiefeln gehauen hätte. Laut rülpsend reichte er dem Kutscher ein klimperndes Ledersäckchen. Angewidert drehte dieser den Kopf zur Seite und verstaute den Beutel in seinem Wams, konnte sich jedoch angesichts der üppigen Bezahlung ein breites Grinsen nicht verkneifen.
»Ihr braucht gar nicht so dümmlich zu lächeln!«, fuhr ihn der Recke an. »Glaubt ja nicht, dass wir nicht merken, dass Ihr uns übers Ohr haut.« Er schaute den Kutscher aus rot unterlaufenen Augen grimmig an. Was sollte er machen? Die große Zahl derer, die sich hier vor den Toren Neuss’ mit den letzten Besorgungen eindeckten, hatten die Preise selbst für die schlechteste Qualität in die Höhe getrieben. Weniger vom schlechten Gewissen getrieben als aus Angst vor einer tüchtigen Abreibung, verneigte sich der Kutscher kurz und stieg eilig auf. Gerade als sich der Wagen in Bewegung setzte, hielt der Ritter das Pferd am Zaumzeug zurück. Der Mann auf dem Bock zuckte zusammen.
»Ach ja, bevor Ihr ihn vermisst: Euren Burschen schicke ich Euch nach, sobald er die Felle hinüber zu unseren Zelten geschafft hat«, lallte der Betrunkene und gab das Pferd mit einer wegwerfenden Bewegung wieder frei.
Bursche? Von wem sprach der versoffene Kerl? Doch diese Frage wollte der Kutscher nicht vertiefen. Einen Disput mit diesem Trunkenbold zu riskieren, war nun wirklich nicht nach seinem Geschmack. Rasch wendete er den Wagen und fuhr kopfschüttelnd, aber