Frank Kurella

Der Kodex des Bösen


Скачать книгу

und entschwand so lautlos, wie sie gekommen war.

      Der Schreck steckte Marcus immer noch in den Gliedern. Rücklings schob er sich in die Tiefe des Zeltes. Dabei ertastete er vorsichtig die Kisten und Säcke, die sich hier zwischen Stangen und Kanthölzern stapelten. Es musste sich um das Requisiten- oder Vorratslager der Gaukler handeln. Deutlich hörte er den Schlag seines pochenden Herzens.

      In dieser Sekunde legte sich ein kalter Arm von hinten um seinen Hals, und Marcus spürte die Spitze eines Dolchs unterhalb seines Kinns.

      »Nur ein Laut und du bist tot! Ich steche dich ab wie ein Schwein!«, raunte ihm eine Männerstimme ins Ohr.

      Wer war der Kerl, der sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte? Dem Klang der Stimme nach zu urteilen, musste es sich um einen jungen Mann handeln, der ihn da bedrohte.

      »Du legst dich jetzt flach auf den Bauch und verschränkst die Arme auf dem Rücken«, befahl die Stimme, die unvermittelt schwächer wurde. Fast kraftlos löste sich der Arm, und die Dolchspitze verließ sein Kinn. Marcus spürte eine zitternde Hand in seinem Nacken, die ihn bäuchlings zu Boden drückte. Dann ergriff der Fremde seine Handgelenkte und führte sie auf dem Rücken zusammen. Starr vor Angst lag Marcus da und wagte sich nicht zu rühren. Die Holzstange, auf der sein Oberkörper ruhte, drückte ihm unweigerlich in die Rippen. Jede Sekunde rechnete er damit, dass sich die Klinge des Dolches von hinten in seinen Rücken bohren würde. Doch der tödliche Stoß blieb aus.

      In diesem Moment setzte die Musik wieder ein, und die Männer begannen zu johlen. Sie ahnten wohl schon, dass nun die sehnlich erwartete Tanzdarbietung der Schönheit, der Höhepunkt der abendlichen Vorstellung, beginnen würde. Voller Vorfreude starrten sie auf den Stoff des Vorhangs, der nun durch die Luft wirbelte und den Blick auf Patricia freigab. Mit verführerischen Schritten trat die Schöne im Takt der Musik hinaus in den Schein der Fackeln, der ihr Haar noch strahlender glänzen ließ. Mit beiden Händen hatte sie den Rock ergriffen und ihn ein wenig angehoben, sodass er den Blick auf ihre schlanken Fesseln freigab. Die eingängige, fröhliche Musik wurde immer schneller. Das kurze Thema der irischen Melodie schien sich rascher und rascher zu wiederholen, und Patricia hob mit jeder Wiederholung den Rock ein wenig höher. Dabei warf sie den Kopf von links nach rechts, sodass ihr lockiges Haar hin und her flog und die rote Mähne ihr sommersprossiges Gesicht immer wieder für Sekunden freigab. Der untere Saum hatte nun beinahe ihre Knie freigelegt, als ein gellender Ruf die Musik unterbrach: »Sünderin!«

      Mit weit aufgerissenen Augen starrte Patricia in die Menge und blieb unvermittelt stehen. Auch die Musik verstummte auf der Stelle.

      »Ein wahrer Sündenpfuhl hat sich hier im Lager des Erzbischofs aufgetan. Der Satan hat Einzug gehalten in Eurem Kreis, der zu dieser Stunde die Heiligen um ihre Fürsprache anflehen sollte, auf dass Gott, der Allmächtige, uns zum gerechten Siege führet.« Der neu ernannte Legat des Erzbischofs, Ignatius von Heinsberg, schritt, dicht gefolgt von einigen Klerikern, durch die Menschenmasse. Ein Diakon streckte ein reich verziertes Vortragekreuz in den Abendhimmel und teilte das Halbrund der Männer wie Moses einst das Rote Meer. Das geifernde Johlen verstummte, und selbst die fünf Störenfriede verhielten sich wie artige Knaben. »Bedeckt Euch, Weib, und fordert nicht länger die fleischliche Gier dieser gottesfürchtigen Männer heraus.« Sein ausgestreckter Finger zeigte auf Patricia. Erst jetzt merkte die Irin, dass sie den Rock immer noch geschürzt hielt, und ließ ihn sofort sinken. »Schloss nicht auch Salome, deine Schwester im Geiste, einen Pakt mit dem Bösen und tanzte für Herodes, bevor sie von ihm den Kopf des Johannes forderte? So bist auch du eine Tochter des Satans!«

      Dobberstein erkannte gedankenschnell, dass die Lage zu eskalieren drohte, und schob die Verdutzte hastig hinter den Vorhang. Dann wandte er sich beschwichtigend an den aufgebrachten Geistlichen: »Verzeiht, Euer Hochwürden. Es war nicht unsere Absicht, die Männer zu verwirren und auf Abwege zu führen. Vielmehr stand uns der Sinn danach, die Vasallen des Erzbischofs zu zerstreuen, auf dass sie, gestärkt durch unser Tun, in den nächsten Tagen einen großen Sieg für die getreue Mutter Kirche erlangen.« Dabei verbeugte er sich tief und bedeutete seinen Leuten, sich zurückzuziehen. Sekunden später war niemand mehr auf dem Podium zu sehen, und nichts erinnerte an das muntere Treiben, das gerade noch die Gemüter in Wallung gebracht hatte.

      »Und Ihr?«, der Legat wandte sich in seinem missionarischen Eifer an die umherstehenden Ritter, die sich um ihr abendliches Vergnügen beraubt sahen. Speichel hatte sich in den Mundwinkeln des Legaten gesammelt und bildete schaumige Bläschen wie Algengischt auf den Wellen einer herannahenden Sturmflut. »Sollten Eure Gaben nicht lieber den Armen gelten, statt diese nichtsnutzigen Wesen zu nähren? Wäre eine Geste der Nächstenliebe an einem Bedürftigen nicht gottgefälliger, als hier diesem heidnischen Treiben zu frönen?« Mit zornerfüllter Miene schaute er dabei von Mann zu Mann, fixierte Augenpaar um Augenpaar. Auch wenn der Kleriker in seiner Argumentation übersehen hatte, dass es sich bei den Spielleuten um die Ärmsten handelte, die das Lager zu bieten hatte, ergriff die Männer eine schuldbewusste Betroffenheit. Da es darüber hinaus nichts mehr zu begaffen gab, trollten sie sich und kehrten zu ihren Zelten zurück.

      Der Schauplatz hatte sich bereits gänzlich geleert, als auch der Legat mit seinem Gefolge den ausgemachten Ort der Sünde verließ. Trotz seines klerikalen Zorns, der immer noch in ihm kochte, spürte der Gottesdiener eine Art Zufriedenheit, dem heidnischen Treiben ein Ende bereitet zu haben.

      Vor dem Zelt war Totenstille eingekehrt. Nur der schwere Atem des Mannes neben Marcus war noch zu hören. Wer war der Fremde? Hätte er ihn töten wollen, so hätte er nur zustechen brauchen, als er Marcus von hinten gepackt hatte. Diese Schlussfolgerung beruhigte ihn ein wenig. Von Zeit zu Zeit meinte er ein leises Stöhnen zu vernehmen. Ein Stöhnen wie das eines Verwundeten. War dies der Grund, warum der Mann ihn nicht vollends überwältigt hatte? Der Grund, warum sein Arm so kraftlos niedergesunken war?

      Noch lange hing Marcus seinen Gedanken und Ängsten nach. Mit einem Sterbenden in seinen Armen hatte der Tag begonnen und mit einem Dolch an der Kehle geendet. Doch hatte dieser Tag nur Grauenhaftes für ihn bereitgehalten? Nein, immer wieder rief er sich das Gesicht der schönen Irin ins Gedächtnis. Konzentriert auf ihre fröhlichen Augen und den Glanz ihres Haares, meinte er beinahe den Lavendelduft zu riechen, den ihr Körper ausgeströmt hatte. Schon im nächsten Augenblick rissen ihn die Worte des sterbenden Priesters aus seinen Träumereien: ›Schrein, Quirinus, Diebe, drei Muscheln, Armarius Niko…‹ Die tiefe Nacht war bereits hereingebrochen, bevor er trotz aller quälenden Gedanken einschlief.

      *

      Die Schatten rückten noch enger zusammen. »Habt Ihr es endlich gelöst?«, fragte der eine ungeduldig mit drohendem Unterton und hielt den Leuchter höher, sodass der Schein der Kerze das Gesicht seines Gegenübers erhellte.

      »Bisher war meine Suche nicht erfolgreich«, entgegnete der andere. »Es ist recht beschwerlich, nur drei Stunden des Nachts suchen zu können. Meint Ihr nicht, dass …«

      »Auf keinen Fall! Am Tage könntet Ihr entdeckt werden, und alles war umsonst. Schlagt Euch diesen Gedanken ein für alle Mal aus dem Kopf. Wie mir der Bote heute berichtete, sind bereits zwei Horte des Geistes in unserem Besitz. Der dritte folgt schon in den nächsten Wochen.«

      »Und wenn ich letztlich nicht fündig werde und alles umsonst war?«

      »Dann möchte ich nicht in Eurer Haut stecken. Ihr glaubt nicht im Ernst, ich wäre dieses Wagnis eingegangen, um am Ende mit leeren Händen dazustehen und schuldbeladen vor den Herrgott zu treten! Ihr habt es mir versprochen und werdet Eure Zusage halten.« Die Ungeduld in seiner Stimme wurde eindringlicher. Einmal mehr bereute der andere, dass er sich in einem Anfall des Leichtsinns offenbart hatte. Zu drückend war die Erkenntnis des Entdeckten geworden, als dass er sie länger für sich hätte behalten können. Die Begehrlichkeit, die er dadurch geweckt hatte, saß ihm nun bleischwer im Nacken, wie ein Gewicht, das die Waagschale unausweichlich herunterdrückt. »Die unumgängliche Geisel der Menschheit, der Krieg, wird Euch eine Galgenfrist gewähren. So werden meine Helfer noch einige Zeit brauchen, die Vorbereitung zu vollenden. Nutzt die Zeit, die Euch verbleibt.« Mit diesen drohenden Worten wandte er sich ab und verließ das nächtliche Treffen. Eilig führte der Zurückgebliebene seine Arbeit fort.

      *