und somit drang das Licht Jahr für Jahr dumpfer durch die Fenster. Nicht mehr lang und in seiner Wohnstube würde ewige Dämmerung herrschen.
Er pflanzte sich aufs Sofa, schob das Kissen hinter seinen Rücken, und solange seine Finger zwischen den Polstern nach der Fernbedienung stöberten, beäugte er die rechte Wand. Früher zierte die Tapete ein auf Pappe geleimtes Puzzle, das Eva während ihrer Chemotherapie gemacht hatte; heute hingen dort Fotos und Zeitungsartikel und eine Karte vom Westhavelland.
»Kannst du mir mal verraten, was ich übersehn hab?«, fragte er in die Stille hinein. »Hä?«
Doch Eva reagierte nicht, mit keinem Wort, keiner Geste.
»Was frag ich dich überhaupt«, motzte er. »Du hast schon damals die Schnauze voll gehabt.«
Er spähte nach den beiden Fotografien, die im Zentrum seiner Sammlung hingen. Auf der besseren Aufnahme sah man einen jungen Mann neben seiner Mutter. Martin und Lisbeth Berger. Willy hatte das Foto Mitte der 90er geknipst, was die Persönlichkeitsrechte der beiden verletzte und ihm fast eine Abmahnung eingebracht hätte.
Das zweite Foto, das ein Vogelkundler aus Pechlin geschossen hatte, war in Schwarz-Weiß und zeigte einen Ausschnitt der Gollwitzer Heide: im Hintergrund der graue Himmel und die Landschaft, im Vordergrund eine Straße und die verwischte Gestalt eines Mopeds inklusive Fahrer. Das Kennzeichen war von Matsch verdreckt und dementsprechend unbrauchbar. Henning Kokles hatte den Heimflug der Kraniche festhalten wollen, und das Moped war ihm zufällig ins Bild geraten. Für ihn eine verpfuschte Aufnahme, für Willy der Beweis, nach dem er lange gesucht hatte. Manchmal wünschte er sich, dieser Zufall hätte sich nie ereignet und Kokles zwei Sekunden später den Auslöser gedrückt. Vielleicht wäre er dann auch ohne Kinder einer dieser perfekten Witwer geworden.
»Dir ist doch klar«, fragte er, »dass er wieder zuschlagen wird?«
Er klopfte mit der Fernbedingung auf seine Oberschenkel, als erwartete er von Eva tatsächlich eine Antwort. Nach einer Weile seufzte er und schob die leere Bierpulle zwischen die Polster, angelte vom Boden eine Flasche »Goldkrone« und dachte an den verdammten Zucker.
Bloß keine Panik
Während Justin sich über einen älteren Jungen ausließ, hörte Anna das Läuten des Telefons; es drang durch die Bürotür auf den Flur hinaus, abgehackt und schrill, als würde ihr der Anrufer direkt ins Ohr kreischen.
»Wieso darf der immer bestimmen?« Justin fuchtelte mit seiner Tischtenniskelle herum. »Die anderen wollen auch spielen.«
»Ich werde mit ihm reden.«
»Das sagt Sonja auch immer.«
»Gib mir fünf Minuten, okay?«
Justin nahm das Läuten entweder nicht wahr oder ignorierte es absichtlich; obwohl sie vor seinen Augen den Schlüssel ins Schloss steckte, verlangte er von ihr, sie solle den Idioten rausschmeißen. »Jetzt sofort.«
»Ich muss ans Telefon«, erklärte sie.
»Dann warte ich hier.«
»Justin, wir schließen um acht.«
»Hab ich’s doch gewusst.«
»Was hast du gewusst?«
»Dass du sowieso nichts machst.«
»Justin«, sagte sie. »Fahr mal runter.«
»Das ist der beschissenste Jugendklub, den ich kenne.« Er warf den Schläger auf den Boden, wandte sich ab und lief in der Pose eines arroganten Fußballers zur Treppe. »Das war so was von klar!«, brüllte er. »Typisch Anna!«
Keine Zeit und keine Nerven, um sich seine Komplimente anzuhören. Sie schloss die Tür auf und huschte ins Büro. Unerledigte Aufgaben hatten aus dem Raum eine Rumpelkammer gemacht; rechts ihr Schreibtisch, ringsum Regale bis unter die Decke. Wo sich keine Ordner aneinanderreihten, standen Kartons voller Flyer oder Brettspiele, die sie auf Vollständigkeit prüfen wollte. Am Schrank ein Plakat zur U-18-Wahl, davor eine Kiste mit Broschüren von Pro Asyl und einer neu gegründeten Mädchengruppe. »Girls Power – Machst du mit?« Aus dem Aktenschrank war das obere Scharnier rausgebrochen, sodass die Tür halb in den Raum ragte. Unten am Kühlschrank hing eine Postkarte vom Hausmeister: Liebe Grüße aus Vietnam. Ich vermisse keinen von euch. Anna ließ sich auf den Drehstuhl fallen und langte nach dem Telefon.
»Majakowski hier.«
Keine Reaktion.
»Hallo?«
Sie schaute aufs Display.
»Ist jemand dran?«
Kein Name wurde angezeigt, keine Nummer.
»Hallo-o?«
Sie hörte ein Seufzen. Oder ein Stöhnen.
»Nur als kleine Info«, sagte sie. »Ich lege jetzt auf.«
Wer auch immer angerufen hatte, kam ihr allerdings zuvor und unterbrach die Verbindung. Sie prüfte erneut das Display, wo neben dem Akkustand lediglich die Uhrzeit blinkte. 20.03 Uhr. Justin hatte recht; sie würde im Tischtennisraum nicht für Gerechtigkeit sorgen, zumindest nicht mehr heute. Typisch Anna. Sie legte das Telefon auf einen Stapel Formulare, lehnte sich zurück und betrachtete den Brief, den sie heute Morgen in der Post gefunden hatte. Schon beim Lesen war ihr kotzübel geworden, dann hatte sie ihn an die äußere Tischkante geschoben, möglichst weit weg von sich, nur einen Stups vom Papierkorb entfernt.
In der Hoffnung, den Brief ignorieren zu können, wandte sie sich ab und starrte mit übertriebener Konzentration auf den Laptop. Sie musste noch eine Mail an das Jugendamt schreiben. Ein Mädchen, das regelmäßig den Klub besuchte, hatte ihre im Müll versinkende Wohnung inklusive ihrer alkoholisierten Mutter gefilmt; daraufhin hatte ihre Freundin das Video ins Internet gestellt, ganz selbstlos, quasi als Beweis echten Mitgefühls.
Während Anna in Gedanken angemessene Sätze formulierte, aktivierte der Laptop den Ruhemodus. Der schwarze Bildschirm spiegelte nun das Büro wider: im Hintergrund das stete Chaos, im Vordergrund Annas Gesicht. Ihr rechtes Auge war deutlich kleiner als das linke, doch sobald sich ihre Miene veränderte, fiel es nicht mehr auf; zu ihrem Bedauern hatte sie die Angewohnheit, mit leblosem Ausdruck in der Gegend herumzustarren. Wie eine Eule – nur mit einem kleinen und einem großen Auge. Durch ihr kurzes Haar ähnelte sie ihrem Bruder oder eher einer 33-jährigen Version von ihm, einer Version, die niemals existiert hatte und niemals existieren würde. Mit einer impulsiven Geste schlug Anna gegen die Maus, und der Bildschirm leuchtete wieder auf.
Etwa zehn Minuten später schlenderte ihre Kollegin Sonja ins Büro; sie trug eine Pudelmütze, einen Parka und Doc Martens. In Gegenwart der knapp 50-Jährigen fühlte sich Anna frühzeitig gealtert – in Mode und Lebensstil, in Ansichten und Wünschen.
»So«, sagte Sonja. »Ich hab die Meute rausgefeuert.«
»Auch die ewigen Nörgler?«
»Alle in die Kälte verscheucht, allesamt.«
Anna streckte ihr den Daumen entgegen.
»Ich soll dir allerdings von Justin ausrichten, dass du gehirnamputiert bist und schwul.«
»Hat er wirklich gehirnamputiert gesagt?«
»Ja, sehr laut und mit sehr viel Spucke.«
»Ziemlich retro«, stellte Anna fest. »Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«
Sonja öffnete das Fenster, setzte sich auf die Heizung und zündete sich eine Marlboro an. Eigentlich war das Rauchen im Klub untersagt, aber das kümmerte Anna nur so weit, dass sie Sonja ermahnte, sich nicht erwischen zu lassen. Sie wickelte sich ein Halstuch um und widmete sich der E-Mail.
»Ach du Scheiße«, fluchte Sonja. »Wer hat das denn verzapft?«
Anna schaute vom Laptop auf und realisierte, dass ihre Kollegin den Brief in den Fingern hielt. »Eigentlich ist das privat.«
»Sorry, ich dachte, das wäre ein peinlicher Liebesbrief.«