Anselm Grün

So große Gefühle!


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Erwachsener wundert sich dann, wenn die Kleinen irgendwann ganz anders – eben entwicklungsgemäß – reagieren. Die Kinder von heute wissen auch mehr, sie wissen und erfahren durch die allgegenwärtige mediale Berieselung Dinge, die sie emotional oft überfordern. Nicht selten zerreißt es sie regelrecht, wenn sie mit Unglücken, Katastrophen und Kriegen konfrontiert werden. Mögen diese noch so weit entfernt sein, gefühlsmäßig gehen sie ihnen nahe. TEMPO und Beschleunigung scheinen ein Gebot der Stunde, Verschnaufpausen sind immer weniger gestattet. Wenn das Kind in den Kindergarten kommt, wird nach einiger Zeit das Augenmerk auf die Schule gelegt. Und besucht es dann die Grundschule, fällt der Blick auf den Übergang zur weiterführenden Schule. Schnell! Schneller! Am schnellsten!

      Doch bevor man jetzt in sentimentale Weinerlichkeit ausbricht und in den Trauergesang vom armen Kind einstimmt, vom Kind, das in ökonomische Verwertungszusammenhänge gepresst wird und darin aufgehen soll, da sei ganz schnell Einhalt geboten. Kinder sind eben auch geborene Anarchisten und wunderbare Widerständler.

       Weil ich ein Kind bin

      Kinder schaffen sich Räume, die nur ihnen gehören und die eng getakteten Zeitplänen ihr persönliches Zeitempfinden entgegensetzen.

       Wenn alle Erwachsenen in der Familie am Morgen vor der Arbeit durchdrehen, dann wird ein Kind vielleicht umso ruhiger, als wollte es ausdrücken: Wenn hier alle verrückt werden, bitte schön! Ich spiele jetzt in Ruhe noch mit meinen Socken und schau mal, ob ich meinen Fuß reinkriege!

       Wenn Mama und Papa mir ein tolles Buch über die Natur geschenkt haben, dann gehe ich lieber in den Garten, buddle im Boden oder sitze im Gras und schaue den Ameisen zu.

       Wenn Papa und Mama meinen, ich könne schon allein durchschlafen, weil ich vier und damit groß bin, dann zeige ich ihnen, wie es wirklich ist. Ich liege nachts allein im Bett. Papa und Mama liegen zu zweit im Bett und vergnügen sich. Die merken nicht mal, wenn das böse Krokodil kommt und mich frisst. Da nehme ich doch lieber meinen Kuschelhasen und mein Kopfkissen und lade mich bei ihnen ein.

       Wenn meine Eltern denken, ich bin jetzt acht und könne schon ganz allein im Haus bleiben, dann sage ich Nein! Ich bin zwar schon groß. Aber so groß auch schon wieder nicht. Und wer soll mir dann das Essen kochen oder mich in die Schule fahren? Keiner! Ich will, dass die bei mir bleiben!

      Und je mehr eine gesamtgesellschaftliche und individuell erzeugte Beschleunigung sich breitmacht, umso mehr praktizieren Kinder das Moment der Entschleunigung. Ein Kind redet nicht, es handelt, es zeigt den Erwachsenen: Macht langsam! Ich bin acht und noch nicht zwölf! Zudem kommt ein weiterer Gesichtspunkt ins Spiel: Entwicklungsphasen wie Trotz und Pubertät treten früher ein. Schon ein einjähriges Kind kann seine Autonomieanfälle haben und ein Schulkind mit neun Jahren pubertätsbedingte Aufwallungen zeigen.

      Schreibt mir keine Rollen zu!

      Die Feststellung, Kinder würden immer schlimmer werden, stimmt nicht. Sie handeln anders als Heranwachsende früherer Generationen, weil sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern, die sich auf ihre Persönlichkeit und ihre Gefühlswelt auswirken. Diese Bewertungen lassen sich aus Aussagen heraushören, wenn Eltern ihre Kinder charakterisieren: »Felix ist aggressiv.« – »Julia ist so wehleidig.« – »Patricia ist ein Mittelkind.«

      Solche Feststellungen beschreiben natürlich nicht das WESEN eines Kindes, sie schreiben ihm eine Rolle zu. Man hat vielleicht etwas gelesen über das verwöhnte Einzelkind. Hat man nun ein geschwisterloses Kind, so wird alles, was es tut, vor allem das, was man als Mutter oder Vater am Kind nicht so mag, vor der Folie »Einzelkind« betrachtet.

      Manches Kind hat früh den Stempel des »Problemkinds«, des »Sorgenkinds«, weg. Und zugleich hat es seine Zuschreibung weg – dieses Kind, dem viel Negatives passiert, das von einem Unheil ins nächste tappt, das nicht lachen und fröhlich sein kann, das so häufig wie ein Trauerkloß daherkommt, ein »ganz armes Kind«, dem man wohl schnell helfen möchte, das dann aber auch bitte schön dankbar für die Unterstützung zu sein hat.

      Und dann gibt es da noch die »Mittelkinder« oder auch »Sandwichkinder«, wie man sie gegenwärtig nennt. Auch hier geistert das Bild von einem Kind herum, das ständig für Unruhe sorgt, das auffällig ist und mit dem man nicht selten so seine Schwierigkeiten hat: »Sie ist eben ein Mittelkind!« Oder: »Er ist und bleibt ein Sandwichkind! Da kann man nichts anderes erwarten!«

      Also: Stempel drauf! Und in die passende Schublade gelegt. Doch aufgepasst: Stellt man sich ein Sandwich einmal ganz bildlich vor, dann liegt oben eine vertrocknete Brötchenhälfte, unten eine nasse, durchgeweichte. Und was ist in der Mitte? Eine leckere Füllung mit Ketchup und attraktiver Salatbeilage. Das Beste befindet sich also in der Mitte!

      ICH BIN SO, WIE ICH BIN!

      Zuschreibungen prägen Rollen, bestimmen Verhaltensmuster und irgendwann richtet man sich darin mehr oder minder frustriert ein.

       FALLGESCHICHTE

      Der sechsjährige Michi versucht, eine Glühbirne einzudrehen. Sie entgleitet seinen Händen und zerplatzt. Seine Mutter sieht das und kommentiert das: »Michi, du und deine linken Hände. Ganz wie der Papa!«

      Aus Michi ist irgendwann ein Michael geworden, er hat zwei Kinder und eine wunderbare Frau. Eines Tages versucht er sich wieder an einer Glühbirne, die ihm – verdammt noch mal! – aus seinen Fingern gleitet. Wieder steht eine Frau hinter ihm, aber die hat er sich diesmal selbst ausgesucht. Wieder zersplittert das Ding. Da kommt ein Satz, der ihm bekannt vorkommt: »Schatz, du und deine linken Hände. Wie dein Papa!« Als er das hört, schaut er seine Hände an: »Da ist eine rechte, da ist eine linke!« Und er denkt zugleich: »Jetzt haltet mal alle die Klappe!«

      Da ist die sechsjährige Paula, die älteste von zwei jüngeren Schwestern, die gerne rumblödelt, verspielt ist und die von ihrer Mutter häufig den Satz hört – mit einer Mischung aus Ermahnung, Vorwurf und Ernst: »Paula! Du bist doch Mamas Vernünftige, oder?! Ich kann mich doch auf dich verlassen, oder?!«

      Auch Paula ist mittlerweile Mutter von Töchtern, sie hat einen tollen Mann. Es läuft gut, doch manchmal, wenn sie ausflippen und sie Mann und Töchter auf den Mond schießen möchte, dann hört sie ihre Mutter sagen: »Paula! Du bist doch Mamas Vernünftige! Ich kann mich doch auf dich verlassen, oder?!« Dann wird sie schnell wieder brav und ruhig – und brodelt innerlich weiter.

      DU BIST GUT SO, WIE DU BIST

      Wer ein Kind durchs Leben begleitet, hat es immer mit zwei Kindern zu tun: dem Kind, das in einem selbst wohnt, welches man mal war und das immer noch da ist. Und jenem, welches vor einem steht. Je mehr man sich mit dem eigenen INNEREN KIND versöhnt hat, indem man weiß, was man im Leben bekommen hat, man akzeptieren kann, was man nicht erhalten hat und wohl auch nicht bekommen wird, umso authentischer kann man jene Kinder durchs Leben begleiten, die vor einem stehen. Man braucht an ihnen nichts wiedergutmachen – unter dem Motto: »Ich möchte nur dein Allerbestes!«

      Eben das wollen Kinder gar nicht. Sie sind auch keine übersättigten Konsummonster, denen man es nicht recht machen kann, die mehr für ein Schlaraffenland geboren sind als vorbereitet auf das Leben mit seinen gelegentlichen Unbillen. Ein Kind möchte einfach so angenommen werden, wie es ist, es wehrt sich gegen Zuschreibungen, weil die oft in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung enden. Man schafft sich eine Rolle und handelt wie sie.

      NICHT IMMER DAS BESTE WOLLEN

      Je weniger INTUITIV ein Erziehungshandeln ist und je stärker von irgendwelchen Vorstellungen geprägt, desto häufiger werden aus unproblematischen Erziehungssituationen problematische.

       FALLGESCHICHTE

      Die Mutter von Clara meinte es besonders gut. Ihre Tochter war Einzelkind, knapp zwei Jahre, und die Mutter