„Wer sollte so etwas tun? Und aus welchem Grund?“, ergriff nun Christine Vistano das Wort und verzog ihren Mund zu einem geschäftsmäßigen, kalten Lächeln. „Das ist doch alles vollkommen absurd, Agent Caravaggio. Ich habe einen Mann verloren, bei dem ich gerade geglaubt habe, die Liebe meines Lebens zu finden und Sie behandeln mich wie einen potentiellen Täter. Dabei bin ich ein Opfer.“ Sie schluckte. Ihr Gesicht wurde dunkelrot. Sie bedeckte kurz die Augen mit der Hand und fasste sich im nächsten Moment wieder.
„Wenn das der Wahrheit entspricht, dann gibt es doch keinen Grund, uns nicht zu sagen, von wem Sie die Waffe haben.“
Sie schluckte.
„Diese Waffen werden unter der Hand verkauft. Sie wissen doch, wie das ist.“
„Sagen Sie keinen Ton mehr, die wollen Sie nur herein legen!“, mischte sich Bandella ein. „Die haben nichts gegen Sie in der Hand!“
„Illegaler Waffenbesitz ist keine Kleinigkeit“, sagte Clive. „Wenn Sie uns weiterhelfen, dann wird sich das sicher günstig auswirken und Ihnen vielleicht eine Bewährung einbringen. Trotz Ihrer Vorstrafen!“
„Ich kann Ihnen dazu nichts sagen“, erklärte sie.
„Meine Mandantin hat alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt!“, fügte Bandella hinzu. Er hakte sich bei ihr unter und führte sie davon.
Clive atmete tief durch. Er wandte den Kopf in Orrys Richtung, der nur mit den Schultern zuckte.
„Einen Versuch war es wert“, meinte unser indianischer Kollege.
„Christine Vistano muss die Waffe von jemandem aus dem Umkreis von Benny Vargas bekommen haben. Jemandem, der irgendetwas mit der Schießerei damals zu tun hatte.“
„Ach, Clive, du weißt, über viele Ecken diese illegalen Schießeisen oft verkauft werden!“
„Es lohnt sich vielleicht trotzdem, in Vargas Umgebung herumzustochern.“
14
Wir riefen auf dem Revier in der Lower East Side an, in das Sean McKenzie strafversetzt worden war, um mit ihm einen Gesprächtermin zu vereinbaren. Wir verabredeten uns für fünf Uhr in einem Coffee Shop an der Suffolk Street.
„Vorher kann ich leider nicht. Hier geht es mal wieder drunter und drüber!“, meinte er.
„In Ordnung. Wir werden pünktlich sein, Lieutenant McKenzie“, versprach ich und unterbrach die Verbindung.
„Große Worte, Jesse!“, lautete Milos Kommentar.
„Wieso?“
„Um die Zeit ist Rush Hour, da ist es fast unmöglich pünktlich zu sein, zumal wir einmal von Nord nach Süd durch den Big Apple fahren müssen!“
„Alles eine Frage der Planung, Milo. Wir fahren einfach früh genug los, dann stellt sich das Problem nicht. Außerdem wollte ich in erster Linie sicherstellen, dass er pünktlich ist.“
Ich sah auf die Uhr. „Wir könnten unterwegs Ray Barros einen Besuch abstatten. Seine Bewährung läuft noch und deswegen haben wir auch eine aktuelle Adresse von ihm in Yorkville.“
„Barros war damals der einzige Verdächtige bei der Schießerei im ‚Abraxas’. Soll er uns mal erklären, wie zwei Waffen, die damals eingesetzt wurden, plötzlich wieder in Gebrauch sind!“
„Falls er bereit ist, uns darauf eine Antwort zu geben.“
15
Wir erreichten das Ende der East 85th Street, wo Ray Barros eine Traumetage mit Ausblick auf den Carl Schurz Park und den East River bewohnte.
„Barros’ Geschäfte scheinen nicht schlecht zu gehen“, meinte Milo. „Aber vom Türsteher zur rechten Hand von Benny Vargas, das ist ja auch eine steile Karriere.“
„Letzteres müssen wir ihm erst einmal nachweisen“, meinte ich.
„Das letzte Mal, dass ihm jemand was nachweisen konnte war, als er vor zwei Jahren wegen Körperverletzung angezeigt und verurteilt wurde.“
„Es wundert mich, dass er noch Bewährung bekommen hat!“
„Mit einem guten Anwalt. Wer hier wohnt, kann sich auch eine gute Verteidigung leisten.“
Ich hatte die dazu vorliegenden Unterlagen nur kurz überflogen. Offenbar war Barros vor zwei Jahren im Kampf um einen Parkplatz ausgerastet und hatte den Fahrer eines Lieferwagens aus dem Wagen gezerrt und verprügelt.
Die Bewährung endete in vier Wochen und seit seiner Verurteilung hatte er sein cholerisches Temperament offenbar besser unter Kontrolle gehabt.
Das Gebäude, in dem Barros residierte, hatte zwanzig Stockwerke. Der Sicherheitsstandard war hoch. Es gab überall Kameras und in der Eingangshalle musste man sich bei den Angehörigen eines privaten Sicherheitsdienstes anmelden, wenn man jemanden besuchen wollte.
Wir wandten uns an den diensthabenden Security Guard, der hinter einem Würfel aus Panzerglas seinen Platz hatte und zeigten ihm unsere Ausweise.
„Trevellian, FBI. Dies ist mein Kollege Agent Tucker. Wir möchten mit Mister Ray Barros sprechen.“
„Einen Augenblick.“
Der Security Guard fragte über eine Sprechanlage bei Barros an. Die Antwort konnten wir nicht verstehen, da der Security Guard sie über einen Ohrhörer empfing.
Es folgte ein kleiner Wortwechsel.
„Ich verstehe“, sagte der Uniformierte schließlich und wandte sich anschließend an uns: „Es tut mir leid, Mister Barros ist nicht zu Hause. Wenn Sie weitergehende Befugnisse haben, stehen wir Ihnen gerne mit einem elektronischen Generalschlüssel zur Verfügung.“
„Mit weitergehenden Befugnissen meinen Sie wohl einen Durchsuchungsbefehl“, schloss ich.
„Zum Beispiel.“
„Nein, den haben wir leider nicht“, sagte ich.
„Mit wem haben Sie denn gerade gesprochen?“, fragte Milo.
„Mit Mister Barros’…“ Der Mann zögerte und schien nach dem passenden Begriff zu suchen. „…Dauerbesuch“, brachte er schließlich hervor.
„Eine Frau?“
„Ja, Mister Barros hat ihr einen eigenen elektronischen Schlüssel für seine Wohnung anfertigen lassen und sie kann hier ein- und ausgehen, als ob Sie eine Hausbewohnerin wäre.“
Ich zog ein Foto von Christine Vistano aus der Jackentasche und zeigte es meinem Gegenüber. „Ist sie das?“
„Das Gesicht stimmt. Sie ist übrigens gerade erst eingetroffen und in ihre Etage gefahren. So ungefähr vor zehn bis zwanzig Minuten. Warten Sie, ich schau mal nach, wie sie heißt…“
„Wir kennen sie als Christine Vistano“, sagte ich. „Und wir möchten jetzt mindestens ebenso gerne mit ihr sprechen wie mit Mister Barros.“
„Soll ich Miss Vistano noch mal anrufen?“
„Nein, wir gehen hinauf. Ich bin überzeugt davon, dass sie uns öffnen wird!“, erwiderte ich.
16
Wir nahmen den Aufzug und fuhren in den sechzehnten Stock, wo sich Ray Barros’ Traumetage befand.
An der Tür klingelten wir.
Surrend suchte uns ein Kameraauge.
Eine Frauenstimme meldete sich an der Sprechanlage.
„Ja, bitte?“
„Jesse Trevellian, FBI - Miss Christine Vistano?