Auf unserer Fahrt in das zerstörte Berlin hatten wir immer wieder angehalten, uns versteckt, Umwege in Kauf genommen und konnten so, sehr vorsichtig, in die Hauptstadt vordringen. Wir nutzten den letzten dünnen Korridor zwischen München und Berlin, der nicht von Russen oder Amerikanern angegriffen wurde. Bei Leipzig war es sehr gefährlich geworden, mehrfach beschossen sie uns, russische Artillerie und alliierte Jäger. Die Front war nur wenige Kilometer entfernt gewesen, es war die Hölle. All das nahm unser Trupp nur aus einem Grund auf sich: Um sich heute persönlich von Hitler die Entlassung aus der Wehrmacht unterschreiben zu lassen.
Das war nicht nur hoch gepokert, weil zu diesem Zeitpunkt jeder, der nicht mitkämpfte, berechtigte Angst haben musste, sofort standrechtlich erschossen zu werden. Es war auch die einzige Möglichkeit. Reinhard von Gehlens zentraler Befehlsbereich, seine Wirkungsstätte, war nicht mehr existent. Auf seinen persönlichen Befehl hin war alles, was den engen Kreis seiner Getreuen betraf, weggebracht worden,… vergraben, vertuscht, versendet oder vernichtet. Seine Freunde im Stab und ihre Familien, alle hatte er nach Hause geschickt, seine Frau und seine vier Kinder waren in Sicherheit. Deswegen musste heute alles klappen, unbedingt. Die Alternative zu nehmen, wie viele andere und ins Ausland gehen, schien für ihn keine Option zu sein. Er hätte es in Argentinien, Brasilien oder sogar in Jugoslawien besser gehabt. Aber ich denke, Gehlen hatte einfach ein zu großes Sendungsbewusstsein. Egal, wie es um die Nazis stand, sein Kampf musste weitergeführt werden, mit welchen Mitteln auch immer, ein Kampf für Deutschland. Er war ein echter Patriot.
Lange war es im Wagen ruhig gewesen, vor allem als die Kolonne sich durch die Vororte Berlins bewegte und die Zerstörung durch Bombenangriffe nicht mehr zu übersehen war. Die Front war jetzt schon in Berlin. Gehlen ließ das wie immer kalt, oder er ließ es sich nicht anmerken. In Wessels Augen konnte man jetzt erkennen, dass es ihm nicht egal war, dass es ihn berührte. Aber nicht nur das, in seinen Augen sah man viel Angst, denn zum einen musste alles perfekt ablaufen, zum anderen würde er es sein, der so oder so Gehlens Position in Berlin einnehmen musste, tot oder lebendig.
Als wir in Richtung Siegessäule und Tierpark kamen wurde es heftiger, die Einschläge der feindlichen Artillerie waren verdammt nah, es lag ein schlimmer Geruch aus Feuer, Ruß und Tod in der Luft. Ich war verängstigt, hatte eine Höllenangst, doch ich biss die Zähne zusammen.
In die Stille hinein brach Wessel das Schweigen und fragte lapidar: „Ist seine Alte eigentlich immer noch so drauf? Wir haben sie ja länger nicht mehr gesehen.“ Gehlen neigte sich etwas in seine Richtung, wartete einen Moment, dann murmelte er: „Woher soll ich denn das wissen? Außerdem interessiert sie mich nicht … “ Wessel drehte nun seinerseits den Kopf zum Fenster und entgegnete: „Hmm … Ich dachte du weißt alles, … oder etwa doch nicht?“ Gehlen blickte nun aus seinem Fenster in die Leere, man sah, dass er nachdachte. Beide machten alles sehr pathetisch, wie immer, wenn sie ihre Gardeuniform trugen. „Ach, weißt du“, antwortete Gehlen, “sie ist nicht schlimmer als andere … bei ihrem Konsum … aber auch nicht besser. Auf jeden Fall ist sie nicht der Ursprung seines Problems.“ Mehr kam dazu nicht.
Als wir die Siegessäule passiert hatten, wurden wir kontrolliert. Junge Burschen und alte Männer, dazu ein paar Majore, die sich abseits in einem Wagen aufhielten, rauchten und fast schon kindlich lachten, ohne Unterlass. Die Ausweise kontrollierte man zügig und wir bogen am Pariser Platz nach rechts. Nach einer Weile hielten wir direkt vor dem Eingang zum Führerbunker, wir stiegen aus und legten gekonnt unsere Mäntel ab.
Man sah, dass die Uniformen von Gehlen und Wessel perfekt saßen, blitzblank sauber und gebürstet waren, als hätte man sie ihnen gerade erst auf den Leib geschneidert. Für mich kein besonderer Anblick, aber in dieser Wüste aus Stein, Lärm, Rauch und offensichtlichem Chaos wirkten diese Uniformen nicht mehr gewohnt beruhigend, sondern eher verstörend,
wie ein Besuch aus besseren Zeiten.
Nachdem wir die Treppe zum Vorbunker hinabgegangen waren, wurden wir erneut kontrolliert. Das Befehlshabende des Bunkers fragte uns schroff nach unserem Termin, kontrollierte penibel seine Tagesliste, zeichnete ab und forderte uns auf, den Besuch auf der Liste zu unterschreiben. In diesem Moment, als wir die Formalitäten erledigten, als wäre nicht der Sturm über Deutschland hereingebrochen, fiel mir auf, dass alles um uns herum völlig normal wirkte. Ich roch, dass die Luft fein säuberlich gefiltert war, ja, wenn nicht sogar vorteilhaft aromatisiert. Alles erschien sauber und es herrschte totale Ruhe. Mitarbeiter des Stabes huschten elegant über die Gänge.
Wir marschierten durch den großen Mittelbereich, den man auch als Kantine nutzte, als Gehlen plötzlich stehen blieb und nach rechts blickte. Es waren zwei Türen geöffnet, die zu Schlafräumen führten. Gehlen sah hinein und betrachtete Goebbels, wie er persönlich das Ausräumen der Zimmer überwachte. Dabei fuchtelte er mit den Armen und schwadronierte, halb brüllend, über dieses und jenes.
Schon einen kurzen Moment später drehte Goebbels seinen Kopf zu uns, seine Augen weiteten sich, als er Gehlen erkannte, dann fror sein Gesicht schlagartig ein. Er ging forsch die vier Schritte zur offenen Tür und warf diese mit einem lauten Knall zu. Baaam! Man konnte hören, wie er drinnen anfing zu schreien und wie wild zu toben. Der Name meines Kommandanten fiel in Verbindung mit allerlei Schimpfwörtern. Gehlen wiederum drehte sich nur zu uns um und flüsterte kurz: „Er zieht hier ein – und wir gehen nach Hause.“ Und leise zu mir: „Der Idiot wird von den falschen Leuten bezahlt.“
Der Adjutant des Führungsstabes im Bunker bat uns nun eindringlich, unseren Termin wahrzunehmen und winkte uns heran. Wir marschieren also durch eine weitere Gasschleuse in den Hauptbunker hinab, wo wir an einer zentralen Stelle erneut in aller Form kontrolliert wurden.
In diesem Moment kam uns Eva Braun entgegen, auch sie wollte Gehlen nicht kennen. Er sprang aber offensiv auf sie zu und fragte: „Eva, wie geht es dir? Ich hoffe gut, wir haben uns lange nicht gesehen… Euer Besuch bei uns ist ja schon eine Ewigkeit her. Wessel und ich hatten gerade erst im Wagen über dich gesprochen.“ Sie erwiderte nichts, sah ihn auch nicht an, sondern ging stoisch weiter, wie eine wandelnde Ölgötze.
Frau Braun wirkte aschfahl und eingefallen, sie war spindeldürr.
„Wem kann ich Sie melden?“ Der Generalstabsangehörige war uns gegenüber nicht gut gelaunt, aber in erster Linie hatte er von Gehlens Benehmen bereits die Nase voll. „Zu Herrn Hitler.“ gab Gehlen an. Der Offizier starrte Gehlen an, dann stotterte er: „Sie möchten zum … Führer!? Haben Sie denn einen Termin?“ Es war einfach wieder einer von denen, die nicht wussten, wen sie vor sich hatten. Anstrengend! Gehlen platzte auch schon wieder aus allen Nähten, aber man musste ihn kennen, um es zu sehen. Sehr bestimmt forderte er: „So wie's auf der Besucherliste am Bunkereingang steht, so wie's in der Liste des Postens auf der Straße stand und so wie's auf Ihrer Liste steht, guter Mann!“ Dazu brüstete er sich, schob seine Pailletten und Orden in den Mittelpunkt und wiederholte:
„Wir können jetzt also zu Herrn Hitler?“
Sogleich stampfte er einfach unbeirrt darauf los, durchquerte den Warteraum und noch bevor man sich versah, stand Gehlen bereits, zusammen mit mir, in Hitlers Sprechzimmer. Währenddessen blieb Wessel draußen, verwickelte die Adjutanten und Generalstabsvorgesetzten in ein Gespräch und blockte sie ab. Verwirrt blickten sie uns hinterher.
Der Raum war relativ dunkel, die Biedermeier Möbel und das sanfte Licht ließen ihn recht gemütlich wirken. Im Mittelpunkt der rechten Seite stand ein Schreibtisch an der Wand, mit diversen Utensilien und Büsten darauf, eine Figur stellte einen Hund dar. Auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch kauerte Hitler. Er hatte noch schnell seinen Feldmantel übergeworfen, ich konnte das lose Hemd und die Hosenträger erkennen und er hatte komische Schuhe an, die eher an Pantoffeln erinnerten.
Ich weiß noch, wie lange ich mir überlegt hatte, wie es wohl sein würde, einmal dem Führer gegenüberzustehen. Aber er saß zusammengekauert, komisch ummantelt, völlig surreal vor mir, ja augenblicklich fast unter mir. Sein Kopf hob sich ganz langsam, er hatte einige Arbeitspapiere betrachtet, nun starrten seine Augen uns an beziehungsweise das, was man in den dunklen Höhlen seines eingefallenen Gesichtes als Augen erkennen konnte. Er wirkte sehr alt, war zerfurcht und so derangiert, dass er weder gefährlich noch bedrohlich wirkte. Unter dem Ölportrait von