ist hier die Hölle los. Auto an Auto und vorbeiziehende Menschenströme. Jetzt sind kaum Autos und noch weniger Menschen zu sehen. Überall hängen bunte, glänzende Neujahrsfestdekorationen, doch die Läden sind geschlossen. Die Stimmung ist gespenstisch. Zu den Militärweltspielen im vorigen Jahr hat man an den Häuserfassaden Lichterketten angebracht. Mir gehen diese blinkenden Dinger gewöhnlich auf die Nerven, aber heute, als ich im Auto die verlassene Straße entlangfahre, empfinde ich beim Anblick der fröhlich blinkenden Lichter ein Gefühl innerer Ruhe. Wir sind wirklich in eine andere Zeit geraten.
Unerwarteterweise sehe ich Minimärkte, die noch geöffnet haben, und am Bürgersteig stehen Menschen, die Gemüse verkaufen. Ich kaufe ihnen etwas Pak Choi ab. Im Minimarkt besorge ich Eier und Milch (Eier finde ich erst im dritten Supermarkt). Ich frage die Verkäufer, ob sie keine Angst vor Ansteckung haben. Auch wir müssen leben, genau wie ihr, so ist es nun mal, bekomme ich zur Antwort. Sie haben ja so recht. Ich bewundere diese Vertreterinnen der arbeitenden Bevölkerung. Wenn ich mich ab und zu mit ihnen unterhalte, fühle ich mich auf eine merkwürdige Weise beruhigt und gestärkt. In den ersten Tagen der Panik sah man auf den verlassenen Straßen im kalten Regen und Wind die Straßenreiniger pflichtbewusst und sorgfältig den Boden fegen. Bei ihrem Anblick schämte ich mich, und meine Angst und Nervosität waren von einem Moment auf den anderen verschwunden.
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1 Andere zu retten dient der SelbstrettungDas Wetter bleibt klar und sonnig. Heute ist der achte Tag des Neujahrsfestes. Zu meiner Überraschung merke ich, dass ich den Lärm und das lebhafte Treiben vermisse, die normalerweise in diesen Tagen unseren Hof erfüllen. Wie gewohnt greife ich nach dem Aufwachen zuerst zum Smartphone und betrachte eine Statistik vom 31. Januar, laut der die Zahl der Infizierten und Verdachtsfälle in Wuhan weiterhin zunimmt, doch seit drei Tagen erkennbar langsamer. Die Zahl der Patienten in kritischem Zustand nimmt ab, die Sterberate bleibt konstant bei etwa zwei Prozent. Die Zahl der Geheilten und der aus der Quarantäne entlassenen Verdachtsfälle steigt. Endlich gute Nachrichten, die zeigen, dass die ergriffenen Maßnahmen Wirkung zeigen. Diese Statistik hat mein ältester Bruder in die Familiengruppe gepostet, ich kann sie nicht nachprüfen, hoffe aber sehr, dass die Zahlen stimmen. Ich halte daran fest: Schafft es Wuhan, dann schafft es ganz China.
Mir fällt ein, dass mein ältester Bruder uns als erster von dem neuen Virus berichtetet hat. Wir haben eine Familiengruppe, die nur aus uns vier Geschwistern, also meinen drei Brüdern und mir, besteht, ohne Ehepartner und Kinder. Zwei meiner älteren Brüder lehren an Wuhaner Universitäten und verfügen durch Kommilitonen und Kollegen über gute Informationsquellen. Vor allem mein ältester Bruder, der Absolvent der Tsinghua-Universität ist und als Professor an der Zentralchinesischen Hochschule für Wissenschaft und Technik in Wuhan lehrte, hat meist direkten Zugang zu aktuellen Informationen. Am 31. Dezember leitete er uns um zehn Uhr morgens einen Artikel weiter, der den folgenden Titel trug: »Neuartige Form von Lungenentzündung mit bisher ungeklärter Ursache in Wuhan«. Dahinter stand in Klammern »SARS«. Er fügte hinzu, dass er nicht wisse, ob die Information korrekt sei.
Mein zweitältester Bruder, der in Shenyang19 lebt und arbeitet, warnte uns auf der Stelle, keiner von uns solle mehr vor die Tür gehen. Er schlug uns vor, zu ihm in den Norden zu kommen. Bei minus 20 Grad würde kein Virus überleben. Woraufhin mein ältester Bruder entgegnete, dass Coronaviren keine Hitze vertrügen, das sei doch seit der SARS-Pandemie 2003 bekannt. Kurz darauf bestätigte er, dass die Nachricht der Wahrheit entspreche und Experten der Nationalen Gesundheitskommission bereits in Wuhan eingetroffen seien.
Mein jüngster Bruder war ziemlich erschrocken, als er erfuhr, dass sich das Epizentrum dieser neuen Krankheit auf dem Südchinesischen Markt für Meeresprodukte, also in seiner unmittelbaren Umgebung, befand. Als ich ein paar Stunden später die Nachricht las, schrieb ich ihm sofort, er solle in nächster Zeit besser nicht ins Krankenhaus gehen. Mein Bruder hat gesundheitliche Probleme und wird regelmäßig im Zentralkrankenhaus des Stadtbezirks Hankou behandelt, wo sich die Fälle mit der neuartigen Lungenentzündung in Wuhan konzentrierten. Er antwortete umgehend, er sei vor die Haustür gegangen und habe sich überzeugt, dass um das Zentralkrankenhaus alles ruhig sei. Anders als er erwartet habe, seien dort keine Reporter versammelt.
In meiner Kommilitonen-Chatgruppe tauchten rasch Videos mit aktuellen Aufnahmen des Zentralkrankenhauses und des Südchinesischen Marktes für Meeresprodukte auf. Ich ermahnte meinen Bruder, beim Verlassen des Hauses eine Schutzmaske zu tragen, und schlug ihm vor, nach dem Neujahrstag erst einmal bei mir unterzukommen. Ich hielt mich damals in meiner Wohnung im relativ weit von Hankou entfernten Vorort Jiangxia auf. Er antwortete, er wolle zunächst beobachten, wie sich die Lage entwickle und dann entscheiden. Mein zweitältester Bruder meinte, wir sollten uns nicht verrückt machen. Die Regierung würde derartige Informationen nicht zurückhalten, das könne sie vor der Bevölkerung nicht verantworten. Ich teilte mehr oder weniger seine Meinung. Auch ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in einer wirklich kritischen Situation Informationen unterdrücken und dem Volk die Wahrheit verheimlichen würde.
Am 1. Januar leitete mein ältester Bruder uns erneut einen Artikel der Wuhan Evening News weiter, der von der kompletten Schließung des Südchinesischen Marktes für Meeresprodukte berichtete. Mein jüngster Bruder beharrte darauf, dass er in der Umgebung seiner Wohnung keine Veränderungen beobachten könne, es sei alles so wie immer. Als einfache Bürger nahmen wir die Sache allerdings von diesem Tag an sehr ernst. Wir begannen Schutzmasken zu tragen und es zu vermeiden, aus dem Haus zu gehen. Ich ging davon aus, dass auch alle anderen Wuhaner in Erinnerung an die während der SARS-Epidemie durchgestandene Angst die Angelegenheit sehr ernst nehmen würden. Kurz darauf kam die offizielle Verlautbarung, gestützt auf die Schlussfolgerungen der Experten. Zusammengefasst in zwei Sätzen: »Das Virus überträgt sich nicht von Mensch zu Mensch« und »Das Virus ist kontrollierbar und eindämmbar«.20 Große Erleichterung allerorten. Wir haben nichts zu befürchten, Wild essen wir nicht, und auf dem Markt für Meeresprodukte kaufen wir nicht ein.
Der Grund, warum ich auf diese Ereignisse zurückkomme, ist ein Interview mit Herrn Wang Guangfa, das ich heute Morgen gelesen habe. Dr. Wang war Mitglied des zweiten nach Wuhan entsandten Expertenteams. Nachdem er verkündet hatte, das Virus sei kontrollier- und eindämmbar, hat er sich selbst angesteckt. Auch wenn es sich bei den Verlautbarungen um Schlussfolgerungen des gesamten Expertenteams handelte und er nicht allein verantwortlich dafür war, hätte man von ihm in diesem Moment ein wenig Selbstreflexion und Schuldgefühl erwarten können. Zumindest Fahrlässigkeit hätte er als Mitglied des Expertenteams einräumen müssen. Gleichgültig, wie viel der Bürokratismus und die Unfähigkeit der Behörden von Wuhan und Hubei sowie die Versuche zahlreicher Personen, die Wahrheit zu vertuschen, um das Bild eines stabilen und blühenden Systems aufrecht zu erhalten, zum Urteil der Experten beigetragen haben: Herr Wang, als Arzt, hätte in seiner Wortwahl zurückhaltender und weniger entschieden sein müssen. Hinzu kommt, dass seine Infizierung am 16. Januar festgestellt wurde, was bedeutet, dass er spätestens dann erfahren haben muss, dass das Virus von »Mensch zu Mensch übertragbar« ist. Doch weder revidierte er seine bei der Verkündung des Expertenurteils gemachte Aussage, noch machte er Anstalten, eine Warnung auszusprechen. Die Wahrheit wurde erst bei der Ankunft von Zhong Nanshan drei Tage später öffentlich gemacht.
Das Interview mit Herrn Wang ist von gestern. Mittlerweile blickt das ganze Land auf das ruinierte Neujahrsfest der Wuhaner (auch wenn diese sich großmütig geben), die schreckliche Situation der Kranken, die von tragischen Verlusten gezeichneten Familien, den Schaden, den die Abriegelung der Stadt dem ganzen Land zufügt, ebenso wie auf die Mühen und Großtaten des Herrn Wang und seiner Berufskollegen. Doch der für die gegenwärtige Situation mitverantwortliche Herr Wang zeigt im Gespräch keinerlei Gewissensbisse oder gar Schuldgefühle. Im Gegenteil, er prahlt sogar damit, dass er sich ohne seine »Besuche in den Wuhaner Krankenzimmern und Fieberambulatorien nicht infiziert und dadurch jedermann den Ernst der Epidemie begreiflich gemacht« hätte. Mir verschlägt es die Sprache. Anscheinend schreckt ihn die Aussicht, von den Wuhanern wüst beschimpft zu werden, nicht.
Ach, die Neigung, eigene Fehler einzugestehen, Reue oder gar Schuldgefühle