Fang Fang

Wuhan Diary


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Gewohnheiten bedingt sein? Die Profession des Arztes ist es jedenfalls, »Kranke zu retten und Wunden zu heilen«. Selbst wenn ihm trotz der vielen Menschen, die infolge seiner Worte erkrankt und in Verzweiflung gestorben sind, die Allgemeinheit nur geringe Schuld anlastet, wie steht es mit ihm selbst? Kann man sich selbst so leichten Herzens aus der Verantwortung stehlen? Regt sich da im Innern nicht wenigstens ein Funken Schuldgefühl? Wo bleibt die Menschenliebe, der man sich verpflichtet hat? Und wie kann man sich in dieser Situation noch derart selbst loben? Sogar Kaiser haben sich in Zeiten nationalen Unglücks gelegentlich zu öffentlichen Schuldeingeständnissen genötigt gefühlt. Und wie steht es mit Herrn Wang (und seinem Expertenteam)? Bringen sie es tatsächlich nicht über sich, die Wuhaner Bürger um Verzeihung zu bitten? Begreifen Sie nicht, dass Ihnen als Ärzten eine Lektion erteilt wurde?

      Gut, ich höre jetzt auf. Ich will lieber Herrn Wang flehentlich bitten, mit verdoppeltem Eifer »Kranke zu retten und Wunden zu heilen«. Andere zu retten dient der Selbstrettung.

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Landet das Staubkorn einer Epoche auf dem Kopf eines Einzelnen, wird es zum Berg

      Heute ist der neunte Tag des Neujahrsfestes. Wie lange halten wir das schon aus? Ich habe keine Ahnung und schaue auf mein Smartphone. Welchen Wochentag haben wir heute? Wer weiß überhaupt noch, welchen Wochentag wir haben? Ich bin schon froh, mich zu erinnern, dass heute der neunte Tag des Neujahrsfestes ist.

      Der Himmel hat sich wieder verdüstert, am Nachmittag fängt es an zu regnen. Das macht die Situation der Kranken, die auf der Suche nach einem freien Bett von einem Krankenhaus zum anderen irren, noch beklemmender. Geht man vor die Tür, scheint alles, abgesehen von den spärlichen Menschen auf den hell erleuchteten Straßen, in bester Ordnung zu sein. Materiell sind wir gut versorgt. Solange man nicht krank wird, geht alles seinen gewohnten Gang. Wuhan ist keineswegs die Vorhölle, als die sie sich manche vorstellen, sondern eine ruhige, schöne, sich mächtig und breit ausdehnende Stadt. Das Chaos beginnt, sobald jemand aus der eigenen Familie erkrankt. Es handelt sich nun mal um eine Infektionskrankheit, und die Kapazitäten der Krankenhäuser sind begrenzt. Den Menschen ist bewusst, dass selbst Familienangehörige von Ärzten, außer in akuten Fällen, nicht stationär aufgenommen werden. Wir befinden uns dieser Tage in der von den Experten vorhergesagten Hochphase der Epidemieentwicklung. Das bedeutet, dass wir noch so manche bittere Nachricht zu hören und zu lesen bekommen werden. Das Traurigste, das ich heute gesehen habe, ist das Video einer Frau, die einem Leichenwagen hinterher weint. Darin liegt ihre verstorbene Mutter, und es ist klar, dass die Tochter nicht an ihrer Bestattung wird teilnehmen können. Womöglich wird sie nicht einmal erfahren, was mit der Asche passiert. Für Söhne und Töchter einer Kultur, die dem Tod mehr Gewicht beimisst als dem Leben, gibt es keinen größeren Schmerz.

      Es ist nicht zu ändern. Niemand kann es ändern. Alles was wir tun können, ist all das zu ertragen. Für die meisten Kranken und ihre Familienangehörigen ist das kaum auszuhalten. Aber was bleibt uns übrig? Der Satz »Landet das Staubkorn einer Epoche auf dem Kopf eines Einzelnen, wird es zum Berg«, der mir früher leicht über die Lippen ging, erhält dieses Mal eine ungleich tiefergehende Bedeutung.

      Am Nachmittag korrespondiere ich mit einem jungen Journalisten. Er erzählt, er fühle sich ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte. Wir sähen nur die Zahlen, aber nicht, was sich dahinter verberge. Für junge Menschen ist die Konfrontation mit all den Grausamkeiten sehr hart. Der Kampf ums Überleben, das Sterben, dazu all die Verbote und Anweisungen von oben. Ich selbst fühle mich auch hilflos. Doch was bleibt uns anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen? Den Kranken können wir nicht helfen, wir können uns nur selbst ermahnen, den Dingen ins Gesicht zu sehen. Was wir an Kräften übrig haben, dazu verwenden, anderen zu helfen, standzuhalten. Wie auch immer, eine weitere Woche müssen wir noch durchhalten.

      Eine Statistik von heute bringt etwas erfreulichere Neuigkeiten: Die Rate der Neuinfektionen außerhalb der Provinz Hubei sinkt, die der Genesungen ist sehr hoch und die Sterberate sehr niedrig. Der nach wie vor bestehende Mangel an medizinischen Ressourcen ist der Hauptgrund dafür, dass in der Provinz Hubei die Statistik so unpräzise und die Zahl der Toten so hoch ist. Er führt dazu, dass bei vielen die Krankheit post mortem nicht diagnostiziert wird und viele Menschen erst kurz vor ihrem Tod ins Krankenhaus eingeliefert werden. Das bedeutet im Klartext, dass die Krankheit keineswegs unheilbar ist. Sie kann rasch unter Kontrolle gebracht werden, wenn sie sofort nach dem Ausbruch behandelt wird.

      In einem Vorschlag, der mir vorliegt, heißt es, dass die medizinischen Einrichtungen der Nachbarprovinzen Gewehr bei Fuß stehen und es dort weit weniger Kranke gibt. Zwar gebe es einige Verdachtsfälle, die sich zu akuten Fällen entwickeln könnten, aber weit weniger akute Fälle würden eine lebensbedrohliche Entwicklung nehmen. Der Vorschlag lautet, Schwerkranke in Begleitung mit Ambulanzen unter strengsten Schutzvorkehrungen von Wuhan in Infektionskliniken der Nachbarprovinzen zu transportieren. Wuhan liegt im Herzen des Landes, und viele Provinzen sind in drei bis vier Stunden erreichbar. Man könne die Menschen dort besser behandeln und vor dem Tod bewahren. Ich weiß nicht ob dieser Vorschlag umsetzbar ist, doch mir erscheint er sinnvoll.

      Andererseits höre ich gerade von einem Kommilitonen, dass das Huoshenshan-Krankenhaus ab morgen bereit sei, Patienten aufzunehmen (die Nachricht ist nicht bestätigt). Dort gebe es ausreichend Betten, angemessene medizinische Versorgung und viel externes medizinisches Personal. Wenn die Nachricht stimmt, wäre der Aufwand, die Kranken in andere Provinzen zu verlegen, überflüssig. Ach, ich bin bescheiden geworden, mein einziger Wunsch in diesem Augenblick ist, dass jeder Erkrankte einen Platz im Krankenhaus erhält, wo er behandelt werden kann. Ich bete für jeden Einzelnen.

      Ich möchte außerdem den jungen Menschen in Wuhan ein Lob aussprechen. Unzählige junge Freiwillige helfen an vorderster Front bei der Epidemiebekämpfung, und das ehrenamtlich! Sie organisieren sich über WeChat-Gruppen und helfen überall dort, wo Not am Mann ist. Das ist wirklich phantastisch! Wir beklagen ständig, dass die junge Generation immer materialistischer wird und nur ihren eigenen Vorteil im Sinn hat. Angesichts ihrer Energie frage ich mich, was wir Alten zu jammern haben. Jede Generation bringt die Menschen hervor, die zu ihr passen, wir Erwachsenen sollten nicht immer so schwarzsehen.

      Gestern Abend schickte mir Cheng Cun ein Video eines jungen Mannes, der Tag für Tag seinen Alltag nach der Abriegelung filmt. Ich habe mir das ganze Video in einem Zug angeschaut. Es ist wirklich eindrucksvoll. Sollte ich Gelegenheit haben, diesen jungen Mann kennenzulernen, werde ich ihm, als Ausdruck meiner Hochachtung, unbedingt ein paar meiner Bücher schenken und ihm erzählen, wie sehr mich sein Video an einem kalten und kummervollen Abend ermutigt haben.

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»Ich sehe die Not des Volkes, seufze, und kann meine Tränen nicht zurückhalten«

      Der zehnte Tag des Neujahrsfestes. Wieder ein strahlender Tag. Gestern dachte ich noch, dass es ununterbrochen weiter regnen würde, doch über Nacht ist der Himmel aufgeklart. Vielleicht erhellt der Sonnenschein das Gemüt der Menschen, die auf Behandlung warten, und schenkt ihnen ein wenig Wärme. Auf der Suche nach Hilfe tragen sie das Virus überall hin und stecken andere an. Wir alle wissen, keiner von ihnen tut das aus freien Stücken, aber es bleibt ihnen keine andere Wahl, wenn sie überleben wollen. Es gibt keinen anderen Weg. Wie kalt und düster muss es in ihnen aussehen, kälter noch als dieser eisige Winter. Ich hoffe sehr, dass diese Menschen unterwegs so wenig wie möglich leiden. Auch wenn kein Krankenbett für sie frei ist, bekommen sie zumindest die wärmenden Sonnenstrahlen.

      Vom Bett aus greife ich zum Smartphone. Als Erstes lese ich vom Erdbeben in Chengdu in der Provinz Sichuan. Da das Erdbeben mehr Schrecken als Schaden anrichtete, kursieren bereits Witze. Einer davon: »Die 20000 in Chengdu lebenden Wuhaner konnten auf einen Schlag identifiziert werden, weil sie in Todesangst auf die Straße rannten, während die Alteingesessenen in ihren Wohnungen heiße Fußbäder nahmen.« Ich muss wider Willen darüber lachen. Der Witz hat bestimmt vielen Wuhanern an diesem Morgen einen unbeschwerten