Jochen Rinner

Hämmerle


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ihm die eine Etage nach unten.

      „Kommissar Hämmerle?“, empfängt ihn Dr. Friedrich.

      „Sie kennen mich schon?“

      „Sie wurden gestern am Tatort erwartet.“

      Etwas verlegen antwortet er: „Widrige Umstände“, und weist gleich, weil er sich darüber nicht ausbreiten will, auf Herrn Wetterer. „Der Eigentümer des Hauses in der Hangstraße.“

      Der Hausherr führt sie den Flur entlang und bittet sie, an der Tür zu warten.

      Herr Wetterer klappert in der Jackentasche nervös mit seinem Schlüsselbund, so hört sich es jedenfalls an, und blickt stumpf geradeaus auf die Tür.

      Kurz darauf öffnet die sich und sie betreten den Raum.

      Im kalten, grellen Licht scheint ihr blondes Haar fahl. Sie ist zugedeckt bis ans Kinn.

      Herrn Wetterers Schritte werden zaghaft und die Hände verschränken sich. Unbeweglich steht er neben ihr, selbst die Augenlider sind starr. Seine Augen werden feucht.

      Du hast ihr das nicht angetan, denkt Fritz Hämmerle.

      Hermann Wetterer sieht sie unentwegt an, scheint aber auch weit weg, als wolle er sie zurückholen. Dann reißt er sich unvermittelt zusammen, blickt zum Doktor und tritt zurück, während dieser sie wieder zudeckt. Dr. Friedrich hat wohl unbeabsichtigt kurz ihren Hals aufgedeckt. Hermann Wetterer erschrickt.

      „Was ist passiert, Herr Hämmerle? Sagen Sie es mir“, drängt er im Aufzug.

      „Wir wissen es noch nicht wirklich“, versucht er abzulenken.

      Sie sind auf dem Weg in sein Zimmer, als ihn Frau Micha durch ihre offene Tür zu sich ruft. Bevor er zu ihr geht, sagt er: „Warten Sie bitte kurz, Herr Wetterer. Dort sind Stühle, setzen Sie sich.“

      Er geht in ihr Büro, schließt die Tür hinter sich und Frau Micha erklärt ihm: „Richard Gerber wird mit Ihnen kommen, hat Herr Scheffer gesagt, aber nur für heute. Er wartet auf Sie.“

      „Wo?“

      „Unten.“

      Er geht mit Herrn Wetterer in sein Zimmer. Das Gespräch mit ihm muss er verschieben. Verhör würde er es ohnehin nicht mehr nennen. Aber ist er sich wirklich schon so sicher? Und während er an seinem Schreibtisch die Adressen einsteckt, sagt er zu ihm:

      „Ich will Sie noch etliches fragen, wir müssen das aber leider verschieben. Ist es Ihnen recht, wenn ich zu Ihnen nach Hause komme? Ich rufe Sie an.“

      „Wie Sie wollen.“

      Fritz Hämmerle bringt ihn zur Anmeldung, verabschiedet sich und nimmt gleich die Treppe nach unten.

      „Was ist denn bei euch da oben los?“, empfängt ihn Richard Gerber. „Muss ich jetzt schon auf eure Einsätze?“

      „Hängt wohl mit der Bergerstraße zusammen.“

      Richard Gerber geht voraus zu seinem Auto.

      „Sie wollen mit Ihrer Flunder fahren?“

      „Sagen Sie nicht Flunder zu meinem Auto.“

      „Und falls wir einen der Herren gleich mitnehmen müssen?“

      Durchaus missmutig sieht er zu einem Dienstwagen. „Wollen Sie fahren?“

      „Nein, ich kenne die Stadt noch nicht.“

      „Wen zuerst? Der Haydnweg liegt näher.“

      „Gut, also zuerst Herr Swoboda.“

      Richard Gerber fährt wirklich die schnellste Strecke. Er krallt sich im Beifahrersitz fest – oh, das ist wirklich nicht sein Ding, noch nie gewesen. Selbst von seiner Frau wird er dafür gelegentlich mitleidig belächelt.

      Jetzt drosselt Gerber das Tempo.

      „Hier muss der Haydnweg gleich rechts abzweigen.“ Sie sind mitten in einem Industriegebiet. „Wie kommen die dazu, hier eine Straße nach dem Komponisten zu benennen?“

      Die Hausnummer ist eine KFZ-Werkstatt mit einem Platz voller gebrauchter Autos ohne Kennzeichen, alle Marken durcheinander. Eines der großen grauen Rolltore steht halb offen. Unter der Hebebühne ist ein Bärtiger in einer ebenso grauen Kombi beschäftigt.

      Der Bärtige hat bemerkt, wie sie beide nahezu gleichzeitig das Auto rechts hinten in der Halle entdecken. Es ist rot.

      „Der ist nicht zu verkaufen“, sagt der Bärtige. „Gehört dem Chef.“

      „Gibt es noch so einen bei Ihnen?“

      „Ganz bestimmt nicht.“

      „Schade. Dürfen wir ihn trotzdem mal anschauen?“

      „Bitte schön.“

      Sie zwängen sich durch die Autos. Richard Gerber ist begeistert. „Der war immer schon rot, wir können weiter.“

      Jetzt nimmt er den Außenring mitten durchs Grün, von der Stadt ist nichts zu sehen. Der Ring ist voll und er lässt sich treiben, wenn auch missmutig, denn er hätte die Karre sicher gerne ausgefahren.

      „Ist es weit?“, fragt Fritz Hämmerle schließlich.

      „Zwanzig Kilometer auf dem Ring und dann noch drei vielleicht, es ist eine Randsiedlung, fast alles Einfamilienhäuser.“

      Diese Häuser beginnen, sobald der Wald aufhört. Sie scheinen alle wie ausgestorben, die Leute sind arbeiten, die Kinder in der Kita. Gerber fährt fünfzig.

      „Als ich das letzte Mal hier war – ist schon etliche Jahre her –, da grasten Pferde auf der Weide.“

      Wenig später sind manche Hecken so hoch gewachsen, dass nur noch die Dächer zu sehen sind und ab und zu ein Baum, der über den First hinaus wächst. Dann erscheint das erste Bauernhaus mit seinen kleinen Fenstern zwischen dem restaurierten Fachwerk. Jetzt sind sie im ursprünglichen Dorf, in dem vielleicht vor siebzig Jahren noch der Mist neben dem holprigen Kopfsteinpflaster lag und sonntags die Glocke die Bauern in die kleine Kirche rief.

      Nach dieser Kirche fährt Richard Gerber nach rechts. „Jetzt noch bis zur Hausnummer zehn.“

      Die entpuppt sich als Neubau. Sie sind sprachlos, einerseits weil sie sich fragen, wer wohl mitten im alten Ortskern diesen Neubau genehmigt hat, und andererseits weil die Garage offen steht, aus der ihnen das blaue Hinterteil des Autos entgegengrinst. Es fehlt nur noch Herr Kessler.

      „Er könnte hinten raus flüchten“, sagt Fritz Hämmerle angespannt. „Holen wir noch einen Streifenwagen?“

      „Wenn der Dreck am Stecken hat, schrecken ihn Uniformen und Polizeiautos bloß auf. Die Sicht nach hinten ist frei. Außerdem haben die niemanden, wenn ich schon mitmusste, aber versuchen wir es. Ich fahr erst mal hier weg, wir fallen auch so schon zu sehr auf.“

      „Sie rufen besser selbst an, mich kennt noch niemand.“

      Herr Gerber telefoniert und Fritz Hämmerle behält das Haus im Auge.

      „Sie schicken noch zwei Kollegen.“

      Dann geht alles sehr schnell. Es kommt jemand aus dem Haus und verschwindet in der Garage. Sie kommen im letzten Moment vor der Ausfahrt zum Stehen. Der Mann spring aufgebracht aus dem Auto und stürmt wütend auf sie zu, fasst sich aber sofort, als er den Dienstausweis vorgehalten bekommt.

      „Kommissar Hämmerle, das ist mein Kollege Gerber. Herr Kessler?“

      „Ja.“

      Der Mann hat sich im Griff, verblüffend schnell schaltete er um, als wären sie sein Termin. Nahezu beiläufig fragt er: „Weshalb sind Sie hier?“

      „Dieses Auto hat vorletzte Nacht in der Hangstraße vor dem Eingang des Bordells geparkt.“

      „Und warum sollte ich, wenn es denn so gewesen wäre, über solche absolut privaten Angelegenheiten sprechen?“