Jochen Rinner

Hämmerle


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und ging mit Rafi zum Aufzug. Dort bekam er von ihm wie immer einen Stick mit den Aufnahmen. Das lief so, seitdem er ihn einmal drum gebeten hatte.

      Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und zog sein Handy, Kurzwahl eins.

      „Hallo Dani, ist Mama da? --- Nimm dir inzwischen was zu essen. --- Wirst schon was finden. --- Ach, sie kommt gerade? Sag ihr ’nen Gruß. Es wird spät.“

      Der Junge kriegt einen Bass, merkte er, durchs Telefon fiel ihm das besonders auf, und dann kam so eine Art schlechtes Gewissen, auch wenn Lilly nun endlich da war, um kurz vor acht. Sie überließen Daniel viel zu oft sich selbst, und das schon seit drei Jahren, als Lilly plötzlich ihre Praxis übernommen hatte. Ja, das hatte vieles verändert, Chef von fünf Leuten sein und alles drum herum. Die Liste mit ihren eigenen Überstunden wanderte unweigerlich in den Papierkorb.

      Er schaltete seinen Computer ein, steckte den Stick hinein und sah sich die Bilder an. Eines von der Wand im Steinbruch ließ er stehen. So hatte er sie nicht gesehen. Wo hatte Rafi für dieses Foto gestanden? Er musste gegenüber ein ganzes Stück hochgestiegen sein. Er zoomte die Abbruchkante näher heran. Die Wand erhob sich dreißig Meter senkrecht bis zu dieser Kante. Von dort gab es einen über die gesamte Länge gleich breiten Streifen knotigen Gehölzes, der als ziemlich steiler Hang anstieg. Anschließend begann der Wald aus hohen Buchen. Er wollte sowieso noch zu Maik. Sie sollten vielleicht jemanden mitnehmen, der fürs Klettern ausgebildet war. Eigentlich brauchte er ihn aber nicht zu fragen, Maik machte das sowieso selbst. Es blieb nicht aus, sie mussten sich das dort oben näher ansehen. Er griff zum Telefon und hatte Anja Wegmüller am Apparat.

      „Hämmerle hier. Sind Sie weitergekommen?“ Er stellte das Telefon gerne laut, auch wenn er allein war.

      „Der Chef und Wachtmeister Süß sind auf dem Weg nach Riedbach. Der Wirt vom Adler hat seit einigen Tagen auf dem Wanderparkplatz am Hochmoor immer wieder das gleiche Auto am gleichen Platz gesehen und niemand weiß, wem es gehört.“

      „Riedbach?“

      „Der kleine Ort liegt oberhalb des Steinbruchs. Vom Hochmoor gibt es einen Weg, der nicht weit von der Steilwand entlangführt. Am Hochmoor steht eine Sperrscheibe.“

      „Und die Vermisstenmeldungen?“

      „Nichts Passendes im Einzugsbereich. Drei bis vier Wochen, sagt der Chef, liegt die Leiche dort?“

      „Die Zeit stammt vom Pathologen.“

      „Nur ein Mann, zweiundvierzig, eins dreiundsiebzig groß, ist seit fünf Wochen vermisst gemeldet und könnte in das Zeitfenster passen.“

      „Dieser Mann ist zu klein, Dr. Friedrich wird uns spätestens morgen früh einiges sagen können.“

      „Suchen wir besser erst weiter, wenn er geliefert hat.“

      Während er auflegte, stand er auf und griff nach seiner Jacke, die über dem Nachbarstuhl hing und eben auf den Boden rutschen wollte. Während ihm, den rechten Arm bereits im Ärmel und mit dem linken hinter sich den Einschlupf suchend, einfiel, dass er den Computer noch ausschalten musste, und das gleichzeitig mit der Rechten in Angriff nahm, spannte schließlich die Jacke über den Schultern mit einem hoffnungslos eingestülpten Kragen.

      Er merkte, dass er eben wieder einmal dabei war, sich komplett zu verheddern, ließ locker, stellte sich vor seinen kleinen Spiegel und sortierte die Jacke. Er wollte nach Hause. Aber zu Maik musste er schon noch mal, der morgen sicher nicht ausgeschlafen sein würde.

      „Kate, wo ist Maik?“

      „Nebenan.“

      Maik saß vor seinem Mikroskop und leise rauschte der Abzug. Er schaute kurz auf und dann wieder durch das monströse Gerät. „Dieser kleine Abriss stammt tatsächlich vom rechten Handschuh, sind viele Kratzspuren auf der Innenseite. Am linken ist nichts.“ Er packte die Handschuhe wieder ein und verschloss den Beutel sorgfältig. „Sollte mich nicht wundern, wenn Kate an dem Ast noch mehr gefunden hat.“

      „Du Maik, da oben über der Wand ist es steil. Willst du das wirklich allein machen? Du musst gar nicht so grinsen, du Draufgänger!“ Früher wäre er beleidigt gewesen.

      „Wenn’s dich beruhigt, wir haben Klettergürtel da und Seile. Kannst ja auch den Süß in Eschenweiler anrufen. Der kennt sich bestimmt auch dort oben gut aus.“

      „Nimm das Zeug halt mit!“

      „Du willst nach Hause? Der Doc hat vielleicht schon was.“

      „Hast ja recht, ich geh noch rüber. Nehmen wir morgen wieder den Allrad?“

      „Müssen wir wohl, wenn du nicht den Doc fragen willst, ob er uns sein Auto borgen will.“

      Das Lächeln auf Fritz Hämmerles Gesicht wirkte so erschöpft, wie er sich nach diesem Tag fühlte.

      Dr. Friedrich ging mit ihm nicht zur Leiche, sondern in sein Büro. Dafür war er ihm dankbar und noch während er dabei war, sich zu setzen, sagte er: „Männlich, eins achtundachtzig groß, um die fünfundachtzig Kilo.“

      Auf dem Schirm sah er das Röntgenbild eines Kopfes im Profil. Dr. Friedrich bot ihm den Stuhl neben sich an, griff sich einen Stift und zeigte auf das Bild. „Schädelbasisbruch, Trümmerfraktur, sehen Sie?“ Er wies auf die Stelle seines Bildschirms. „Diese Verletzung führt sofort zum Tod.“

      „Wir nehmen an, dass er abgestürzt ist, dreißig Meter freier Fall.“

      „Die Fraktur ist mittig auf dem Schädel. Er müsste genau kopfüber aufgetroffen sein. Es ist schon anzunehmen, dass während des Sturzes die Muskulatur im Halsbereich angespannt ist – dreißig Meter freier Fall?“

      Er hielt jedoch inne, klang irgendwie nicht so richtig überzeugt und fügte nach einer Weile hinzu: „Dieses Röntgenbild lieferte uns ein erstes Ergebnis, das allein lässt noch keinen endgültigen Schluss zu.“

      Sie schwiegen, bis der Doc sich entschlossen mit seinem Stuhl umdrehte und aufstand. „Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Der Zustand des Toten erschwert die Untersuchungen.“

      „Wir fahren morgen früh wieder nach Eschenweiler.“ Fritz sah Dr. Friedrich fragend an.

      „Schauen Sie, bevor Sie fahren, in Ihr Postfach. Dann bekommen Sie zumindest noch sein Alter.“

      Fritz Hämmerle war froh, die weiße Nüchternheit dieses Raumes mit dem schmalen Fensterband aus Milchglas unter der Decke verlassen zu können. Er fragte sich, wie der Mann, den er sehr schätzte und der doch so unnahbar war, wohl wohnte. Er wusste nichts von ihm, außer dass er diesen großen SUV fuhr.

      Er nahm die Drehtür und stemmte die Hände in die Jackentaschen. Es war kühl. Die Sterne über der Stadt standen fahl am Himmel, der nie richtig dunkel wurde. Von der Allee draußen näherten sich die Lichter der nächsten Bahn. Er rannte, sprang außer Atem in den letzten Wagen und ließ sich auf einen Sitz fallen. Der Hut auf dem grauen, glatten Haar direkt vor ihm schwankte in sanftem Mäandern hin und her. So könnte er in der Bahn nie schlafen, war aber schon geneigt, es dem Mann, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, gleichzutun, doch Hermann Wetterer hielt ihn davon ab.

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      Sie stehen nebeneinander an der Brüstung seiner großen Dachterrasse. Die halbe Sonne über dem Waldsaum schickt ihre letzten Strahlen, die ihnen wie pulsierend entgegenrollen, dann entschwindet sie. Es ist still. Der Schatten kriecht über die Brüstung. Ein Streif Rot bleibt am Himmel, dort, wo sie untergegangen ist, daneben Orange, ein trübes Gelb, ein Hauch Grün und das blasse Blau verliert sich schließlich in der Dunkelheit. Auch die purpurnen Wolkenhäufchen dunkeln sich ein. Unten startet ein Auto, aber die Dachtraufe versperrt den Blick auf die Straße.

      „Seit wann kennen Sie Rita Kämpf?“

      „Seit dem Herbst davor.“

      „Vor was?“

      „Bevor meine Frau wegging, im November, also zehn Monate vorher.“ Er hält inne, als scheue er sich, es zu erzählen, und sieht ihn an. Aber bevor