hörten sie den Pathologen.
„Zwanzig Minuten, wenn’s auf dem Zubringer nicht staut“, sagte Maik.
„Herr Haberland, kommen Sie dann kurz zu mir wegen der Kleidung?“
„Okay.“
Fritz Hämmerle steckte das Handy wieder ein. Er hatte Maik nie erzählt, dass er sich an seine erste Zeit in der K30 wie an einen Film erinnern konnte. Nur Lilly gegenüber hatte er einmal damit angefangen, das war schon länger her, aber die hatte wohl gerade nicht zugehört. In dieser heftigen ersten Zeit bei der K30 hatte er sich als psychologisches Weichei entpuppt, nahezu untauglich für diesen Beruf. Gerade in diesem Moment damals, als Maik und seine Leute dabei gewesen waren, in der Hangstraße zusammenzupacken, und er sich vorgestellt hatte, wie die Eingangstür versiegelt würde, sie alle wegführen und er allein mit einer Telefonnummer auf einem Bierdeckel, einem Diktiergerät und einem Zettel in der einen Jackentasche und einem Notizbuch in der anderen vor dieser Tür stehen würde, hatte es ihm die Eingeweide wieder zusammengezogen. Und dieses Gefühl hatte an diesem ersten Arbeitstag schon oft - viel zu oft – gehabt. Er hatte sich damals die Zimmer hinten im Gang gar nicht mehr angesehen. Er war in das erste hineingegangen, hatte sich in den Sessel fallen lassen und versucht, den Nebel aus seinem Schädel zu vertreiben.
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„Herr Hämmerle, wollen Sie die Siegel hierbehalten?“, ruft Maik Haberland in den Flur und holt ihn aus seinem Trübsinn.
„Ich komme“, ruft er zurück und quält sich aus seinem Sessel. Wo soll er die Siegel auch hinpacken?
Sie machen dicht, steigen ein und fahren alle weg.
Er steht verlassen auf der Straße und starrt die Tür an. Nach einer Weile wandert sein Blick an der Fassade des Wohnhauses nach oben: An zwei Fenstern bewegen sich die Gardinen.
Das Haus mit seinen vier Etagen ist alt, hat hohe, nicht allzu breite Fenster mit Steingewänden und Schlussstein. Das Parterre hat halbmondförmige Oberlichter. Es gibt keinen Ausgang auf diese recht schmale Nebenstraße. Es führt auch kein Fußweg am Haus entlang, nur auf der anderen Seite der Straße vor einer mannshohen Natursteinmauer, die dem steilen Hang Halt gibt. Dort wächst hohes Gebüsch, über das weiter oben eine Reihe ebenso alter Wohnhäuser ragt, deren einzige direkte Verbindung nach hier unten wohl nur eine schmale Treppe ist, die die Stützmauer durchschneidet. Diese Stufen sind wie ein Gewölbe mit hohem Gehölz überwachsen, akkurat freigeschnitten zu einem grünen Tunnel.
Auf der anderen Giebelseite des Wohnhauses kriecht ebensolches Gebüsch an der Wand hinauf. Ein Stück weiter entdeckt Fritz Hämmerle einen Trampelpfad durch das wirre Gehölz nach unten, auf dem er zur darunterliegenden Straße gelangt, vor eine weniger hohe Front ebenso alter Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite. Er geht nach rechts und steht ein Stockwerk tiefer vor der Haustür. Sie ist in der Mitte, links neben dem Wohnhaus eine Reihe Tore für PKWs und darüber die großen verstaubten Fenster der drei LKW-Garagen. Die Gauben im Dachgeschoss über den Garagen sind von der Traufe verdeckt.
Die Haustür ist nicht abgeschlossen. Mit der Klinke in der Hand liest er in der Türleibung die zweireihigen Schilder neben den Klingelknöpfen. An den untersten beiden steht nichts, wahrscheinlich für die Fenster zu beiden Seiten der Haustür, darüber für jede der vier Etagen zwei Namen und oben noch einer, vielleicht für das Dachgeschoss des Wohnhauses. Er geht hinein, fängt im ersten Stock an und klingelt aufs Geratewohl.
Der Westminster Gong verhallt, ohne dass jemand öffnet, ebenso beim zweiten Versuch. Dann versucht er die Wohnungstür auf der rechten Seite - auch nichts. Er ist bereits an der Treppe nach oben, als sich die Tür öffnet.
„Ja, bitte?“
Klingt verschlafen, denkt Fritz Hämmerle. Er geht zurück, zieht seinen Dienstausweis und sagt: „Entschuldigen Sie die Störung. Kommissar Hämmerle, ich hätte einige Fragen.“
„Mhm, kommen Sie.“ Der Mann lässt ihn hinein, öffnet die Tür zum Wohnzimmer und sagt: „Suchen Sie sich einen Platz.“
Fritz Hämmerle sieht im Vorbeigehen im Flur eine dunkelblaue Uniform hängen mit einem Security-Aufnäher. Er geht zwischen Sitzgruppe, Schrankwand und abgestandenem Zigarettenrauch hindurch zu einem der zwei Fenster und blickt durch die vergilbten Stores auf die Häuserfront gegenüber und die unendlich lange Reihe Autos an der Bordsteinkante. Dass die Welt schon auf der anderen Seite eines Wohnhauses doch gleich so anders aussieht.
„Kaffee?“, fragt es von nebenan.
„Ja, gerne.“
Wenig später steht der Kaffee auf dem Couchtisch.
„Herr Krämer, las ich an der Tür.“
„Ja, Johannes Krämer. Stört es Sie, wenn ich rauche?“
„Nein“, lügt Fritz Hämmerle und sieht schon wieder seine Frau die Nase rümpfen, wenn er denn irgendwann nach Hause kommt.
Herr Krämer legt die Gauloises und das Feuerzeug neben die Kanne und holt zwei Tassen aus der Schrankwand.
„Sahne, Zucker?“
„Ja, beides.“
Herr Krämer sinkt mit seinem schwarzen Jogginganzug auf die Couch.
„Hab ich Sie eigentlich geweckt?“, versucht es Fritz Hämmerle ganz direkt.
„Ja, haben Sie. Ich bin beim Sicherheitsdienst, Nachtschicht, früher nannte man den Nachtwächter.“
„Entschuldigen Sie.“
„Macht nichts, Sie sind meinem Wecker eben zuvorgekommen.“ Er zündet sich eine Zigarette an, rutscht im Sessel nach vorn und gießt mit ausgestrecktem Arm Kaffee ein. Die Zigarette hängt im Mundwinkel, die Augen sind zugekniffen wegen des Rauches und er fragt nuschelnd durch den Kaffeedampf: „Weshalb sitzen Sie hier bei mir auf der Couch?“
„Kennen Sie die beiden, die über den Garagen wohnen?“
„Wie lange lebe ich jetzt hier? Fünfzehn Jahre? Vor sechs Jahren hat er das vermietet, hat nicht lange gedauert, bis ich gemerkt hab, was da los ist.“
„Hat Ihnen das vorher niemand gesagt?“
„Nö, als ich dem Vermieter das vorgehalten hab, hat er ganz schön rumgeeiert, aber ich hab’s auf sich beruhen lassen. Die Miete ist ausgesprochen günstig und hier auf dieser Seite des Hauses hat man so gut wie nichts damit zu tun. Manchmal gerät ein Neukunde in die falsche Straße und irrt verschämt hier vor der Haustür rum. Einem hab ich im Vorbeigehen gesagt: ‚Eine Straße weiter.‘ Der hat nur genickt und ist umgedreht. Was ist eigentlich los?“
„Frau Kämpf ist gestorben.“
„Ach was! Überdosis?“
„Wir haben noch so gut wie nichts und müssen wissen, wer zuletzt dort gewesen ist, parkende Autos und so. Wann sind Sie heute früh gekommen?“
„Gestern Abend gegen halb acht bin ich zur Bushaltestelle an der Hauptstraße gelaufen und bin heute früh zehn nach halb sieben auf dem gleichen Weg wiedergekommen. Wie gesagt, auf dieser Seite kriegt man von dort hinten nichts mit, das ist bei den Wohnungen mit Fenstern zur Rückseite anders.“
„Sicherlich“, antwortet Fritz Hämmerle und erinnert sich an die schwankenden Gardinen. „Wem gehört das Haus?“
„Hermann wohnt ganz oben, Hermann Wetterer.“
„Also ist Ihnen nichts aufgefallen?“
„Nein, alles wie sonst, auf dem Weg von der Bushaltestelle sind zwei Autos von gegenüber weggefahren, vielleicht waren es auch drei und Rainer ist mir auf der Treppe entgegengekommen in seiner Zimmermannskluft. Hat’s früh immer sehr eilig, zwei Stufen auf einmal, da reicht es nur für ein kurzes Hallo.“
„Wohnt er über Ihnen?“
„Nein, im Vierten, zusammen mit seiner Freundin.“
„Wie ist das mit den Wohnungen