Treppe hinab ins Untergeschoß und lief den Gang Richtung Ostflügel, vorbei an Archiven, Lagerräumen und der Haustechnik, bis zur einzigen Tür, die von hier ins Präsidium führte, und zog seine Karte durch den Scanner. Er drückte die Tür auf und war in der Spurensicherung, die sich von hier bis unter das Foyer, den eigentlichen Eingang des Polizeipräsidiums in der Mitte des zweihundert Meter langen Gebäudeflügels, erstreckte. Dort endete die Spurensicherung nach ihren Labors und Büros in ihrer eigenen Tiefgarage für die Einsatzfahrzeuge und dem Bereich für das Untersuchen von PKWs und Kleintransportern.
Er wollte durch die dritte Tür rechts in Maiks Büro, klopfte und probierte die Klinke. „Keiner da“, brummte er und ging eine Tür weiter. „Guten Morgen Kate, wo ist Maik?“
„In der Garage“, bekam er zur Antwort und wollte die Tür wieder hinter sich zuziehen, aber sie rief ihm hinterher: „Warte doch, Frau Micha war eben am Telefon, die suchen dich!“
Er eilte zum Aufzug. Frau Micha war die Sekretärin vom Chef und hieß eigentlich Michaela Krebs. Der Chef hatte irgendwann Frau Micha zu ihr gesagt und seither war es dabei geblieben.
Frau Micha wusste, dass er morgens gelegentlich in der Spurensicherung hängen blieb. Er verkniff sich den Aufzug und nahm drei Stufen auf einmal bis hoch in die Eingangshalle des Präsidiums. Um diese Zeit wären sie genervt, wenn der Aufzug erst ins Untergeschoß fahren würde. Die Tür würde sich öffnen und Fritz Hämmerle im Keller würde sich einem Dutzend Augenpaaren gegenüberfinden: „Na, mal wieder auf Tauchstation? Wohl gleich im Sarg übernachtet“, hätte er dann zu hören bekommen.
Lieber schloss er sich den Leuten an, die noch immer unablässig vom gegenüberliegenden Parkplatz und vom Parkhaus ins Gebäude strömten, und drängte mit ihnen in den Aufzug. Er sah, dass die Stockwerke zwei, drei, vier bereits leuchteten, und drückte noch die Fünf: Kriminaldirektion, K 30, Kapitaldelikte. Ab der vierten Etage war er allein.
Frau Michas Tür stand offen. Er schaltete auf Normalschritt und trat ins Zimmer. „Entschuldigung.“
„Herr Hämmerle, was ist mit Ihrem Handy? Sie fahren doch keine U-Bahn!“ Es interessierte sie aber nicht wirklich, denn sie sprach gleich weiter: „Eine Leiche, liegt wohl schon länger. Die Direktion Nord hat das zu uns durchgereicht.“
Denen wird’s wohl stinken, dachte er.
„Hauptwachtmeister Piper war am Telefon, Polizeistation Eschenweiler.“
Die kannte er und sagte zu ihr: „Da ist nur Urwald. Dann muss ich wohl gleich die Schuhe wechseln.“
„Genau, hat er auch gesagt, unwegsames Gelände.“
„Hat der Piper auch gesagt, wie viele Leute er dran hat?“
„Ja, mit ihm drei.“
Er nahm den Zettel, den ihm Frau Micha reichte, und las: „Wegmüller, Assistentin, 01602 …?“
„Sie sollen sich bei ihr melden“, unterbrach ihn Frau Micha. „Herr Haberland übernimmt die Spurensicherung.“
„Gut“, antwortete er kurz und war schon wieder auf dem Flur, da rief sie ihm nach: „Herr Hämmerle, schalten Sie Ihr Handy ein!“
In seinem Büro schlüpfte er in die Wanderschuhe, fuhr in den Keller zu Maik und fand ihn in der Garage.
„Ausgeschlafen?“, empfing dieser ihn etwas ungehalten.
„Mhm.“ Warum war Maik eigentlich so mürrisch?
Er saß schon im Allrad, einem geländetauglichen Transporter mit sechs Sitzen und dahinter viel Platz für alles, was so gebraucht wurde. Maik sagte: „Der Fotograf kommt gleich.“
„Wen nimmst du noch mit?“
„Was weißt du schon?“
„So gut wie nichts, außer Schutzmasken einpacken und Wanderschuhe anziehen. Letzteres hab ich schon. - Ach ja, und einen Zettel hab ich mit der Telefonnummer von einer Frau Wegmüller, Pipers Assistentin.“
„Mit der Wegmüller hab ich eben gesprochen. Alter Steinbruch, schon lange stillgelegt, die Zufahrt soll schwierig sein, im Bruch kann man aber fast bis zur Fundstelle fahren. Der Förster hat die Leiche heute im Morgengrauen gefunden, das heißt, sein Hund hat sie aus dem Laub gebuddelt. Hoffentlich war der nicht zu eifrig.“
„Und Piper?“
„Der Förster musste ein ganzes Stück zurückfahren, ehe er telefonieren konnte. Piper und seine Leute haben ihn dort getroffen. Die Wegmüller sagt, sie erreicht ihren Chef schon nicht mehr. Der Förster meinte, sie könnten ihr Auto gleich stehen lassen, damit kämen sie nicht weit. Piper ließ einen Mann beim Wagen und ist zum Förster in den Jeep gestiegen. Jetzt fehlt nur noch der Fotograf.“
„Falsch“, kam es von hinten. Sie hatten Rafi gar nicht bemerkt. Er wuchtete seine schwere Umhängetasche ins Auto und fragte: „Wie sieht’s dort aus, brauchen wir noch Leute?“
„Sieht nicht nach viel Arbeit aus“, sagte Maik. „Ich helfe dir. Wir machen aus dieser Sache keinen Betriebsausflug.“ Sein Telefon klingelte und schnitt ihm das Wort ab. Er schaute aufs Display und nahm ab.
„Guten Morgen, Herr Dr. Friedrich. --- Nein, die liegt schon länger und der Hund vom Förster war dran. Es wäre besser, wenn Sie bei der Bergung dabeibleiben. --- Ja, die Zufahrt ist unwegsam. --- Wir fahren jetzt los. --- Eine Stunde, zehn Minuten.“ Dann gab er ihm noch die Nummer von Pipers Assistentin und legte auf. „Der Doc fährt mit seinem Privatauto.“
Auf der Autobahn rief Fritz Hämmerle in Eschenweiler an und sagte Anja Wegmüller, sie wären in einer Stunde da.
Sie antwortete ihm, dass sie noch nichts wüssten, aber ihr Kollege Süß habe eben von zwei Unfällen erzählt aus der Zeit, als er gerade seine Stelle dort angetreten hätte, und er habe kürzlich sein fünfunddreißigjähriges Dienstjubiläum gefeiert. Ein Pilzsucher sei ins Rutschen geraten und abgestürzt und später ein Zwölfjähriger, der mit seinen Freunden stromern gewesen sei. Beide tot. Dann sei ein Zaun gebaut worden und seither habe es keinen Unfall mehr gegeben.
Das Gespräch hatten alle mitgehört und Rafi flapste: „Aha, wir suchen jetzt also nach der Witwe, die noch nicht weiß, dass sie eine ist, und davon überzeugt ist, ihr Mann sei mit der Geliebten in die Südsee durchgebrannt. Dabei ist er aber eben nur bei dem Versuch umgekommen, Pilze fürs Sonntagsessen zu sammeln.“
Maik gab ein eher unwilliges Geräusch von sich, irgendwo zwischen Knurren und Räuspern. Sie waren sofort still. Fritz Hämmerle kannte Maik. Sie waren Freunde, eigentlich seit Fritz Hämmerles erstem Arbeitstag. Er hatte diese Art, auf seine Einsätze zuzugehen oder eben zuzufahren, diese Art, schon dort zu sein, bevor er ankam. Deshalb wollte er kein blödes Gerede und Witze schon gar nicht. Es kam sonst auch nicht oft vor, dass sie zusammen im Auto saßen, doch wegen dieser wilden Zufahrt zur Fundstelle hatte er eine Ausnahme gemacht.
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Endlich stürmt er die Stufen im Präsidium hinauf und wird dann langsamer wegen des beklemmenden Gefühls in seinem Bauch. Er ist fast zwei Stunden zu spät. Dieses einschnürende Gefühl kann er nicht abschütteln. Im fünften Stock findet er Frau Micha. Sie hatten sich beim Vorstellungstermin kurz gesehen. Die Flure sind wie ausgestorben.
„Kommissar Hämmerle, reichlich spät!“ Es klingt entrüstet, vorwurfsvoll.
Was er damals zusammengestammelt hatte, hat er vergessen: Stau, Baustelle, gesperrter Zubringer und wer weiß, was noch.
„Herr Hämmerle, Sie sehen schlecht aus.“ Er sagt nichts. „Ist doch nicht etwa wegen dieses Fehlstarts?“ Wieder kein Wort. „Setzen Sie sich und trinken Sie erst mal einen Kaffee. Inzwischen rufe ich Ihren Chef an. Jedenfalls wollte er das seit zwei Stunden sein. Keine Sorge, ich sage ihm nicht, dass Sie eben beim Kaffeetrinken sind.“
Während sie an der Kaffeemaschine steht, erklärt sie, warum niemand da ist: „Fast alle sind schon seit gestern Abend im Einsatz wegen der Bank in der Bergerstraße, Geiseln, noch keine Entspannung.