Jochen Rinner

Hämmerle


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zog den Kragen seiner nassen Jacke hoch, lehnte sich an die Scheibe und schlief ein. Doch der Lärm an der nächsten Haltestelle weckte ihn bereits wieder.

      Die Gleise führten dann entlang der vierspurigen Straße. Die Bahn fuhr den Autos davon. Vor sieben Jahren hatte er mit dem alten Golf genau da drüben im Verkehr gesteckt. Er war an seinem ersten Arbeitstag früher von zu Hause losgefahren, um auch wirklich pünktlich anzukommen. Wie hätte er auch wissen können, dass wegen einer Baustelle viele auf diese Straße auswichen? Sie fuhren wie die Schnecken und an ebendieser Stelle hatte er sehnsüchtig der Bahn hinterhergeschaut, die unendlich schnell davonraste, und seine Stimmung hätte nicht düsterer sein können, selbst wenn er geahnt hätte, dass er so viel später keinen Parkplatz mehr finden würde und dass obendrein auch noch fünf Minuten Fußweg dazukommen würden.

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      Nach ihrem ersten Besuch im Steinweg fahren Lilly und er gleich zum Hotel. Sie hängen ihren Gedanken nach und nur die Dame aus dem Navi redet.

      Nach den Formalitäten an der Rezeption scheppert schließlich der Schlüssel auf den Tresen. Sie beziehen ihr Zimmer und er fragt: „Gehen wir essen?“ Sie nickt.

      Dann schweigen sie weiter. Der Kellner muss zweimal nach ihren Getränkewünschen fragen und sie sind tatsächlich hungrig.

      Mit vollem Mund kritzelt er Grundrisse auf die Servietten und sieht: Auch wenn nicht üppig viel Platz ist, für ihre kleine Familie reicht es. Das Haus ist nicht wirklich alt, keine aufsteigende Nässe im Mauerwerk und auch sonst ist ihnen vom Dach bis zu dem kleinen Keller nichts Beunruhigendes aufgefallen.

      „Also kein Bausachverständiger“, sagt er.

      „Wenn du meinst. Hast du überhaupt Lust auf Gartenarbeit? O-der doch lieber eine Wohnung?“, fragt Lilly.

      „Wenn das mit dem Haus was wird, müssten erst mal sowieso alle ran.“

      Karl Winter hatte tags zuvor gemeint, sie sollten gleich an die Tür kommen und klingeln. Wieder an der Gartenpforte sieht er sie offenbar schon durchs Küchenfenster kommen und öffnet die Haustür. „Guten Morgen, kommen Sie rein.“

      „Guten Morgen“, wünschen sie auch, setzen sich wieder an den Küchentisch, auf dem Tassen stehen und ein Teller mit Keksen nach dem Rezept seiner Frau.

      „Wie geht es Ihnen? Haben Sie gut geschlafen?“, fragt Herr Winter.

      „Wir beschäftigen uns nicht alle Tage mit so großen Anschaffungen“, antwortet er.

      Karl Winter greift zur Kanne und schenkt Kaffee ein. Der scheint schwärzer als gestern und der erste Schluck bestätigt die Diagnose.

      Lilly gießt sich gleich Milch nach und als sie in den zweiten Keks beißt, meint sie genüsslich kauend: „Herr Winter, wenn Sie uns das Haus verkaufen wollen, ist das Rezept für die Kekse aber schon dabei, oder?“

      „Heißt das, Sie wollen das Haus nicht ohne Rezept?“

      „So ungefähr.“

      Jetzt geht alles ganz schnell. Sie haben keine Fragen mehr, es bleibt bei dem Preis und sie erwähnen die Finanzierungsbestätigung. Karl Winter meint, er wolle nicht viel mitnehmen zu seiner Tochter, nur seinen Sessel und Kleinkram, und er wisse nicht, wie lange es dauern würde, bis das Haus ausgeräumt sei. Sie bieten ihm an, selbst auszuräumen. Er solle einfach einpacken, was er wollte, und alles andere stehen lassen. Er ist erleichtert.

      „Wie lange sind Sie eigentlich noch in der Stadt?“

      „Wir müssen nicht gleich wieder nach Hause.“

      Er habe eine gute Bekannte im Notariat, die ihm gerne helfen wolle, und ob sie einverstanden wären, dass er Marianne mal anrufe.

      „Warum nicht?“, meint Lilly.

      Karl Winter greift zum Telefon und wählt.

      „Marianne? Karl hier. --- Gut, mit den Beinen, das wird halt nicht besser. --- Du wolltest mir helfen, wenn ich mein Haus verkaufe. --- Ja, jetzt wird’s ernst. --- Wir sitzen hier in der Küche. --- Ist alles beieinander. --- Ja. --- Gut, bis gleich.“ Dann legt er wieder auf.

      „Sie ruft gleich zurück“, sagt Karl Winter und erzählt, er habe in der Haustechnik bei der Stadt gearbeitet, bis er vor fünf Jahren in Rente gegangen sei. Für das Gebäude mit dem Notariat war er auch zuständig, mehr als zwanzig Jahre, und all die Jahre gehörte Marianne dort zum Inventar in den Vorzimmern. Erst hatte er in ihrem Büro einen tropfenden Wasserhahn repariert und dabei einige Worte mit ihr gewechselt. Eigentlich hatte sie ihn ausgefragt, von welcher Firma er komme, wollte seinen Namen wissen und so weiter. Er hatte gesagt, er sei bei der Stadt angestellt und so was wie der neue Hausmeister. Im Seitenflügel gab es eine Kantine, ein Geheimtipp von seinem Vorgänger für die Mittagspause. Wenn es mit der Arbeit passte, war er dort und bald war die Kantine eine Drehscheibe für Reparaturaufträge. Marianne und ihre Kolleginnen erledigten das sozusagen gleich auf dem kurzen Dienstweg. Später hatten sie auch gelegentlich zusammen am Tisch gesessen und über alles Mögliche geredet, ihre Familien, die Sorgen mit den Kindern, Urlaub und so weiter. Als Rentner war er jedes Jahr im Notariat zur Weihnachtsfeier eingeladen worden und hatte beim letzten Mal Marianne erzählt, dass es immer mühseliger würde und er das Haus wohl irgendwann verkaufen müsse. „Karl, wenn du willst, helfe ich dir dabei“, hatte sie gesagt und redete gleich weiter: „Geht aber nur noch bis zum Herbst, dann bin ich auch Rentner. Mein Mann will unbedingt, dass ich gleich aufhöre. Wenn er das mal nicht bereut …“ Daraufhin hatte ihr Chef, der im Vorbeigehen das Gespräch mitbekommen hatte, ihrem Mann die Hand auf die Schulter gelegt und gemeint, er könne sie jederzeit wieder dort abliefern.

      Dann klingelt tatsächlich das Telefon. Karl Winter hebt ab.

      „Hallo, Marianne? --- Ach, du bist’s. --- Ja, alles wie besprochen. --- Du, Marianne will gleich zurückrufen, ich ruf dich später an. --- Ja, machen wir.“

      Es war der Schwiegersohn.

      Das Telefon klingelt gleich wieder und Marianne fragt, ob sie alle am nächsten Tag um siebzehn Uhr kommen könnten, dann wäre der Grundbuchauszug auch da. Der Chef habe morgen den Termin dazwischengeschoben. Wenn sie heute alle Unterlagen beisammen hätten, könne es losgehen.

      Sie holen Karl Winter am nächsten Tag am Nachmittag ab. Und so ist der Notarvertrag unterschrieben.

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      Er war eine Dreiviertelstunde unterwegs. Die Straßenbahn hatte mittlerweile die Fahrbahn gewechselt, die Wohnhäuser drängten sich dichter an die Straße und der Strom der Autos war zäh bis ganz erstarrt, wie die Minen mancher Fahrer, deren Arbeitsbeginn gerade ins Schwimmen geriet. Einer klopfte mit den Daumen rhythmisch auf sein Lenkrad, seine Lippen bewegten sich. Er war allein in seinem Auto wie die meisten anderen auch.

      Fritz Hämmerle schaute wie weggetreten zum Fenster hinaus. Als die Bahn aus der Innenstadt fuhr und rasant in die Allee Richtung Polizeipräsidium einbog, kippte ihm im Gedränge der Mann neben ihm gegen die Schulter.

      „Entschuldigung.“

      „Bitte, bitte“, sagte Fritz Hämmerle und stand schon mal auf, er musste sowieso die Nächste raus. Viele stiegen hier aus und es war in der Menge ein leiser Drang Richtung Tür zu spüren.

      Es regnete unablässig, Schirme öffneten sich in einem bunten Gewimmel. Die Bahn fuhr davon und Fritz Hämmerle fasste den Haupteingang an der Südseite des riesigen Karrees gegenüber der Haltestelle ins Auge. Er wollte schnell ins Trockene. Das Polizeipräsidium mit dem Antennenmast auf dem Dach bildete die Ostseite des Karrees.

      An der Drehtür staute es sich. Wie dieser mächtige Gebäudekomplex selbst war auch die Eingangshalle mit ihrer hohen Fassade aus Glas riesig. Man meinte, ins Tropenhaus des zoologischen Gartens zu gehen: Pflanzen bis zur Decke, Orchideen wuchsen im Geäst. Es fehlten nur Vogelgezwitscher und das Krokodilbecken, aber es gab Sitzgruppen und geradeaus einen Tresen.

      Als er letztens mit Maik Haberland hier hineingegangen war, hatte der hochgeschaut und bemerkt: „Da braucht man ’ne Kettensäge, um diesen Urwald hier