Jochen Rinner

Hämmerle


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nebenan? Es hat niemand geöffnet.“

      „Nebenan wohnt Marcella mit ihren drei Jungs, da geht’s munter zu. Als sie hier einzogen sind, gingen die noch in den Kindergarten, jetzt sprießt dem Großen schon der Bart. Kann sein, sie kommen jeden Moment, ist so ihre Zeit, zumindest die Mutter und der Kleine.“ Er bemerkt den fragenden Blick des Kommissars. „Manchmal bin ich drüben und pass auf die Jungs auf, jetzt kaum noch, sind halt schon groß. Als sie einzogen sind, war das Kinderzimmer Wand an Wand mit meiner Wohnung und ich konnte nach der Nachtschicht nicht schlafen – unmöglich. Ich hab geklingelt. Marcella hat geöffnet und alle drei Jungs hingen an ihrer Hosennaht, Rockzipfel wäre nicht zutreffend gewesen. Als sie dann wusste, worum es ging, hat sie mich reingebeten. Also sind wir über Umzugskartons in die Küche gestiegen und haben Kaffee getrunken. Am Ende hab ich ihr geholfen, das Kinderzimmer auf die andere Seite zu räumen, jetzt ist das Treppenhaus dazwischen.“

      Herr Krämer trinkt von seinem Kaffee und Fritz Hämmerle überlegt, was er eigentlich von dem gesprächigen älteren Nachtwächter noch wissen will, ohne den gemütlichen Plausch bei Kaffee und Zigarette länger auszudehnen. Hat er wirklich so wenig Interesse an dem Treiben auf der anderen Seite, wie er vorgibt?

      „Leben Sie schon immer allein hier?“, hätte er lieber nicht fragen sollen. Die Kaffeetasse klebt an Herrn Krämers Lippen, die wenigen heiteren Fältchen in seinen Augenwinkeln verziehen sich, fast unmerklich sinkt er in sich zusammen und lässt die Schultern hängen. Dann trinkt er entschlossen, fast hastig in kurzen Schlucken seinen Kaffee aus, setzt vehement die Tasse ab und in der erstarrten Stille scheppert es. Die Ellbogen auf den Beinen, die Hände zum Knäul verschränkt stöhnt er leise auf, sieht Fritz Hämmerle an und fragt: „Kurzfassung?“

      Aus dem Treppenhaus sind Kinderstimmen zu hören. „Falls Sie mit Ihren Fragen zu Marcella wollen, sie sind jetzt da.“

      „Später“, sagt er nach kurzem Zögern, die Geschichte interessiert ihn doch.

      „Ich war auch Polizist, Streife, hatte ’ne Freundin und wir waren an den freien Tagen oft mit unseren Motorrädern unterwegs. Dann kam Josephine und wir haben geheiratet. Ich bin später ab und zu allein gefahren, wenn ich den scharfen Wind um die Nase brauchte. Später, Josephine war schon in der achten Klasse, da passierte es, ein bisschen Sand in der Kurve und ich bin über die Leitplanke geflogen, Rückgratverletzung. Ich konnte nach einem halben Jahr wieder laufen, wurde aber nicht wieder richtig, vor allem sind die Schmerzen geblieben. Beruf weg, Rente mit vierzig, hab das nicht verkraftet und an meiner Familie ausgelassen, jahrelang. Sie sind dann gegangen, beide. Danach bin ich erst richtig in ein schwarzes Loch gefallen. Es hat später noch mal eine Operation gegeben. Ich hab beim Sicherheitsdienst angefangen und bin in diese Wohnung gezogen, seither hat sich nichts geändert.“ Er lehnt sich zurück, den Arm auf der Sofalehne, und sieht Fritz Hämmerle an.

      Der sagt erst einmal nichts, dann fragt er: „Und die Schmerzen?“

      „Nur noch, wenn das Wetter umschlägt.“

      „Und Ihre Familie?“

      „Nichts, ich weiß nicht mal, wo sie jetzt wohnen.“

      „Das ist hart.“

      „Sie sagen es.“

      Hat er Herrn Krämers Leid wieder aufgewühlt? Es tut ihm leid, Herr Krämer tut ihm leid. Er wünscht ihm sehr, dass er drüber hinwegkommt, trinkt den Kaffee aus, bedankt sich und Herr Krämer bringt ihn zur Tür, schweigend in seinen Kümmernissen versunken und vielleicht auch ein bisschen enttäuscht.

      Marcella öffnet bereits, als er den Finger noch auf dem Klingelknopf hat. Vielleicht war es der gleiche Tisch, an dem sie mit ihrem Nachbarn vor Jahren in der Küche gesessen hat, an dem er sie nun befragt. Ob ihre Hosen auch noch die gleichen sind?

      Marcella antwortet auf seine Frage: „Halb sieben geht es unter der Woche bei uns los und nachts krieg ich nichts mit. Mein Großer hat sein Zimmer auch nach hinten raus und kommt früh sowieso nicht aus dem Bett. Die Jalousien sind beim Frühstück unten, auch in der Küche, wenn es draußen noch duster ist.“

      „Ist Ihr großer Sohn zu Hause?“

      „Nein, er kommt irgendwann später.“

      Das klingt wie eine sorgenvolle Mutter. Vielleicht sollte er ihn auch befragen, falls er doch sehr viel weniger schläft, als sie mitkriegt. „Hat er ein Handy?“

      „Ja, Sie können ihn anrufen.“ Sie greift nach Stift und Zettel, schreibt und schiebt ihn über den Tisch. Die Nummer steckt er in sein Notizbuch und geht wieder.

      Als die Tür eine Etage höher aufgerissen wird, nachdem er, das Gesicht vor dem Türspion, geläutet hat, sieht er durch den Spalt, den der massige Körper zum Türrahmen freilässt, den Zipfel eines rosa Bademantels verschwinden. Der Bauch ist ihm so sehr viel näher als der Kopf und zieht den ersten Blick auf sich - wie peinlich!

      „Na, habt ihr den Laden da drüben endlich ausgeräuchert?“, dröhnt es aus dem glatzköpfigen Gesicht.

      „Kommissar Hämmerle. Sie sind ja bereits auf dem Laufenden, wie ich höre, Herr Meier. Wir suchen Zeugen, die vergangene Nacht etwas gesehen oder gehört haben“, versucht er, es kurz zu halten.

      Hätte er nicht, sagt er, und Fritz Hämmerle belässt es dabei. Den würde er, wenn nötig, lieber ins Präsidium beordern mit seinem überspannten Unterhemd, das es nicht bis in die Hose schafft und die Vertiefung freigibt, in der sich irgendwo tief drinnen der Nabel verbirgt, und dem rotem Gesicht, den unterlaufenen, aggressiv dreinblickenden Augen und der Fahne, die ihm entgegenschlägt.

      Die Wohnung nebenan lässt er aus, um schnell mehr Abstand zu Herrn Meier zu bekommen. Der vergrößert sich unweigerlich, weil in der dritten Etage niemand da ist.

      In der vierten öffnet ihm Frau Klotz. Sie erzählt schon auf dem Weg zu den Sesseln davon, wie das Absperrband am Eingang gezogen und der Sarg ins Auto geschoben wurde. Auch ihn hätte sie gesehen. Er hofft, dass sich ihr Interesse an dem Treiben auf der Straße auch nachts regt.

      Sie antwortet auf seine Frage: „Wissen Sie, ich bin froh, seit einem halben Jahr wieder durchschlafen zu können.“

      „Was hatte Sie bisher daran gehindert?“

      „Wissen Sie, als das jüngste unserer vier Kinder ausgezogen war, haben wir meinen Vater bei uns gepflegt. Und die letzten Monate, bevor er starb, musste ich auch nachts zu ihm. Da hörte ich schon mal eine Autotür klappen oder auch ein Auto losröhren. Davon wache ich sonst nicht auf und mein Mann auch nicht, er hört nicht mehr so gut. Mein Mann kommt in einer Stunde von der Arbeit.“

      „Seit wann sind Sie heute wach?“

      „Seit sechs. Wir frühstücken zusammen, bis er geht. Die normalen Autos, die so vorbeifahren, hört man hier oben kaum, das war früher noch anders. Wenn Hermann mit seinen LKWs los ist, da konnte man sich den Wecker sparen.“

      „Sie meinen Herrn Wetterer?“

      „Ja, er hatte damals noch sein Fuhrgeschäft. Wissen Sie, unsere Kinder waren noch klein, als er das Haus gekauft hat. Ich hab mich mit seiner Frau gut verstanden. Gisela und ich, wir haben uns oft getroffen, die Männer waren manchmal auch dabei, Hermann allerdings eher selten, der war immer unterwegs. Und als die Kinder in der Schule waren, bin ich oft zu ihr ins Büro drüben über den Garagen gegangen. Zwischen den Telefonaten blieb schon Zeit für einen Kaffee. Gisela war, glaub ich, der Dreh- und Angelpunkt, sie hat nicht nur allen Schriftkram und die Buchführung erledigt, sie hat wohl auch die Touren für die zwei Fahrer und ihren Mann geplant.“

      „Und weiter?“

      „Wir haben nie über unsere Ehen gesprochen, aber die beiden haben wohl mehr miteinander telefoniert als direkt miteinander gesprochen. Immer ging es nur um die Firma. Am Wochenende hat er dann noch Umzüge gemacht oder er ist mit dem Schraubenschlüssel unter seinen Lastern rumgekrochen. Dann hat sie sich einfach zurückgezogen, gesagt, das hätte nichts mit mir zu tun, und ist schließlich einfach gegangen. Das ist jetzt sieben Jahre her. Ja, und ein Jahr später hat er die Büroräume vermietet.“

      „Hat