bei Egon musste ich immer auf alles gefasst sein.
„Dann komme ich mit!“ sagte ich mit einem Blick zu meinem Bruder, der mir nickend zu verstehen gab, dass er einverstanden war. Jemand musste ja schließlich bei unserem verwirrten Freund Stefan bleiben und außerdem wäre in der zweisitzigen Piaggo ohnehin kein Platz mehr gewesen.
„Dauert nur ein paar Minuten“, sagte Egon zu meinem Bruder, als er das Verdeck vorschob und verriegelte. „Keine Starterlaubnis, kein Kontakt mit der Flugsicherung?“, fragte ich Egon über unsere Funkverbindung, während er auf die Straße rollte, die hiermit zu einer Rollbahn umfunktioniert wurde.
„Ist nicht notwendig“, sagte er, „wir kommunizieren gedanklich und Kollisionen sind ohnehin ausgeschlossen. Aber frage nicht so viel, Du wirst bald mehr verstehen. Deine Augen, deine Ohren, all deine Sinne werden übergehen vor Freude und Glück. Genieße es einfach.“
In der Luft gingen meine Sinne immer schon über vor Freude und Glück. Ich selbst gab die Fliegerei auf, als ich von Egons Tod erfuhr. Aber ich genoss immer jede Minute in der Luft, auch später als einfacher Passagier. Die Erde unter mir zu wissen, alles so klein und übersichtlich, das reduzierte alle meine Sorgen auf ein Minimum. Ich winkte noch Stefan und meinem Bruder zu, als das Flugzeug abhob, und bald verlor ich sie aus den Augen.
Vor uns bedrohliche Wolken. Er wird doch nicht direkt in dieses Gewitter hineinfliegen, dachte ich bei mir. Es begann zu hageln, und Eis bildete sich auf den Tragflächen. Ich wusste, dass das gefährlich werden konnte, wenn den Steuerungselementen die Beweglichkeit genommen würde. Blitze krachten hernieder, und plötzlich traf ein Blitz das Flugzeug und eine schrille Helligkeit durchfuhr das Cockpit. Die elektronischen Geräte waren perdu, und die mechanischen kaum mehr zu steuern. Die Ruhe Egons provozierte mich. Er tat, was er immer tat. Das Unerwartete.
Dann aber passierten eigenartige Dinge mit mir. Ich schien die Gedanken Egons lesen zu können. Wir kommunizierten gedanklich!
Er fragte mich, wovor ich mich denn fürchte? Was für eine Frage? Wenn das nicht zum Fürchten war, was dann? Aber auf einmal lichteten sich die Wolken, und der blaue Himmel trat hervor.
Nicht nur das. Das Flugzeug schien sich aufzulösen, ich selber löste mich auf. Mein Körper löste sich wie in Luft auf, so wie das Flugzeug. Ich hatte plötzlich das Gefühl, nur noch geistig zu existieren. Alle Materie war nur noch geistig. Als könnte ich den Moment greifen. Ich, nein, mein Geist flog wie ein Vogel. Sagte ich mein Geist? Nun, wie sollte man es sonst nennen, wenn man mit einem Mal nicht mehr im Korsett eines Körpers steckt?
Ich war entsetzt und überwältigt. Alle Sinne in mir waren so gegenwärtig und hundertprozentig, wie ich es noch nie erlebte. Ich hörte Musik, so wie ich diesen Film untermalen würde. Aber es war kein Film. Ich roch die Düfte der Blumen auf den grünen Wiesen und Wäldern weit unter mir. Wälder und Wiesen? Wir starteten doch gerade in der Wüste? Egal, meine Augen konnten sogar das Entfernteste am Horizont noch glasklar ausmachen, und ich konnte alles hören, worauf ich mich gerade konzentrierte. Das muss das Leben in Fülle sein, dachte ich bei mir, so, wie es Jesus versprochen hatte; aber Egon meint, dass ich davon noch weit entfernt wäre.
Egon? Ich hatte ihn inzwischen ganz vergessen, aber er kommunizierte noch mit mir, gedanklich – oder sollte ich auch hier sagen – geistig? Unter mir sehe ich die herrliche Landschaft von Feldern, Flüssen, Seen und Bergen, sogar Autostraßen und Züge, die sich wie bei Modelleisenbahnen in die Landschaft einbetten. Wenn ich mich auf die Eisenbahn unter mir konzentriere, kann ich sogar die Menschen in den Waggons sehen, sie hören. Alle meine Sinne sind so wach, dass ich sogar ihre Gedanken lesen kann. Ich möchte mit ihnen reden, aber sie hören mich nicht.
„Erkläre mir bitte“, wandte ich mich an Egon.
Aber er unterbrach mich: „Liebe Bekannte aus deinem Leben werden dir das Notwendige erklären“.
„Liebe Bekannte aus meinem Leben?“
„Ja, sagen wir so: Menschen, die dir hierher vorausgegangen sind. Du wirst ihnen bald begegnen. Lass einfach das Privileg, hier zu sein, auf dich wirken.“
„Wir sind angekommen“, riss mich der Gedanke Egons aus meinem tranceähnlichen Zustand. Keine Landepiste, keine Flugzeuge, aber es musste wohl ein Flugplatz sein, sonst hätten wir ja nicht landen können. Das ist allerdings die kleinste der Fragen, die mich jetzt beschäftigte.
„Wo sind wir?“, fragte ich wissbegierig.
„Das wirst du später einmal genau beantwortet bekommen. Nenne es einfach eine Art Vorstufe“, ließ mich Egon wissen.
„Vorstufe zu was?“, fragte ich zurück.
„Vorstufe zum vollendeten Leben, immerwährender Suche oder ewiger Verdammnis. Wofür immer du dich entscheidest. Dein Leben hat dich vorgeprägt. Alles, was du getan oder nicht getan hast, war wichtig. Mitbestimmend, für welche Richtung deiner Wege du dich jetzt entscheidest. Was immer du im Leben versäumt hast, kannst du hier nachholen, korrigieren oder vollenden. Du bist aber nur Gast, Dein Leben ist noch nicht zu Ende gelebt. Ich weiß, du möchtest hierbleiben, aber ich muss dich wieder zurückbringen“.
„Wann soll das sein?“, wundere ich mich.
„Wenn du so weit bist. Vergiss die Zeit, Zeit ist Beschränkung. Und so etwas wie Schranken gibt es hier nicht, außer die, die du selbst setzt.
„Dann haben also all jene Recht, die sagen, dass Himmel und Hölle nur ein geistiger Zustand ist?“, frage ich.
„Um Himmels Willen, nein, das wäre ein häretischer Gedanke. Mit der Hölle magst du in diesem Fall Recht haben, sehr Recht sogar. Aber es gibt nichts Reelleres, nichts Wirklicheres, nichts Wahrhaftigeres als den Himmel. Jeder Gedanke, jede Tat, jede Entscheidung, die du triffst – und derer gibt es viele täglich – ruft eine Veränderung in dir hervor. Und diese Veränderungen harmonieren mit deinem Inneren, deiner Umgebung, mit Gott. Oder aber sie verursachen Unruhe, Streitigkeit, stören den Frieden mit dir selbst, deinen Mitmenschen und helfen so der gegenteiligen Sache. So kannst du dich für die Wahrheit oder für den Trug entscheiden. Viele religiöse Lehrer wollen dir weismachen, dass, je mehr Gebote du hältst und je weniger Verfehlungen du dir aufladest, desto näher du dem Himmel bist. Das stimmt so nicht ganz. Auch Petrus, Paulus und alle Heiligen standen schon immer im Konflikt mit Gesetzen. Gesetze, Regeln, Gebote sind zwar notwendige Richtlinien, entscheiden musst du aber in jeder Situation selbst, der Sache und der Situation entsprechend. Und das kann manchmal auch gegen das Gesetz oder gegen die Tradition sein. Und man darf sich jederzeit ändern, jeden Tag neu beginnen. Jeder Heilige hat eine Vergangenheit und jeder Sünder eine Zukunft. Hier oben aber fällt jede Korrektur wesentlich schwerer und ist mit großen Mühen verbunden, weil man immer über seinen eigenen Schatten springen muss. Das ist es, was ihr „Hölle“ nennt“.
„Was muss ich machen, wonach kann ich mich richten, um den richtigen Weg zu gehen?“
„Der heilige Augustinus wurde von seinen Freunden gefragt, als er sie verließ: Was sollen wir jetzt machen?
Er gab ihnen zur Antwort: Liebet einander und macht was ihr wollt.“
„Aber wie weiß ich, was die Liebe will?“
„Jesus ist Liebe. Erinnere dich an die vielen Situationen Jesu im Neuen Testament. Er verstößt gegen viele jüdische Gesetze, vor allem gegen den Sabbat. Nicht aus Protest oder Trotz, sondern weil die Situation es erfordert. Er war nie darauf aus, Gesetze zu brechen.“
„Dann wäre es ja am einfachsten, sein eigenes Tun und Denken dem anzupassen. In fast jeder Situation könnte man sich die Frage stellen: Was würde Jesus jetzt machen?“
„Genau. Nichts anderes will uns die Bibel sagen, aber darüber später mehr.“
„Was ist mit den Juden, den Hindus, den Moslems, all den Andersgläubigen oder sogar den Atheisten? Ist diese Welt für sie verschlossen?“
„Nein, ganz und gar nicht, ihnen gebührt sogar großer Respekt. Du bist als Christ erzogen und vom Glauben geprägt. Aber stell dir vor, du hättest keinen Jesus als Vorbild. Wo wäre dann dein Glaube? Andere