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Als Anfang 1930 das Anschlagbrett des FSSB mit einem Hakenkreuz verunstaltet worden war, rüsteten Unterstützer der freien Sozialisten zum Gegenschlag. Dafür landeten drei von ihnen, von denen keiner jemals als FSSB-Mitglied geführt wurde, vor Gericht. Sie hatten die Anschlagbretter des NS-Studentenbundes entwendet und zu Hause, wo sie bei einem der Angeklagten von der Polizei beschlagnahmt wurden, „mit besonderen Zeichen“ versehen. Vor Gericht machten sie geltend, es habe sich um eine berechtigte „politische Gegenreaktion“ gehandelt.82
Die Staatsschutzorgane der Weimarer Republik maßen dem Freien Sozialistischen Studentenbund nach anfänglich anderer Ansicht keine wesentliche Bedeutung zu: „[…] zeigt die Kommunistische Zelle an der hiesigen Universität wenig Leben.“83 Man sah ihn allerdings als Bindeglied zwischen kommunistischer Bewegung und Bürgertum.84
Nach Bernward Vieten wurde der FSSB von der Universitätsführung zur kommunistischen Zelle hochstilisiert, obwohl laut Schreiben des OP Münster an den preußischen Innenminister vom 22.10.1929 nur ein einziges seiner Mitglieder gleichzeitig der KPD angehörte.85 Dabei handelte es sich um den Schriftführer Rudolf Dannenbaum.
Auch Ludwig Bitter wird bald darauf als zweites eingeschriebenes KPD-Mitglied in einem Bericht vom 16.11.1929 geführt. Dritter war Franz Hahn laut Bericht vom 02.01.1930.86 Seltsam genug, wurde der Kommunist Hahn jedoch offiziell erst viel später (im Wintersemester 1930/31) Mitglied des sozialistischen Studentenbundes – und gleich Erster Vorsitzender.87 Allerdings war er schon früher von den Überwachern der Gruppe als angebliches Mitglied nach Berlin gemeldet worden.88
Wie konnte es sein, dass die Berichte der Politischen Polizei 1929/30 hauptsächlich von Personen handelten, die im Berichtszeitraum gar nicht mehr – oder wie Hahn noch nicht - zum FSSB gehörten? Eine mögliche Lösung des Rätsels wäre es, anzunehmen, dass die genannten Kommunisten unter der Hand eben doch mitmachten, nach außen aber der Anschein erweckt werden sollte, es fänden sich keine KPD-Mitglieder in den Reihen des FSSB.
1933 soll es tatsächlich solch einen Fall gegeben haben.89 Und die Spitzel wussten vielleicht schon 1929/30 mehr als in den FSSB-Listen stand.
Letztlich aber trat die KPD Münster bei ihrer Verankerung in der Studentenschaft auf der Stelle: Im Januar 1933, unmittelbar vor der Machtübernahme der Rechtsextremen, umfasste die „Zelle Uni“ der KPD gerade einmal drei Mitglieder90, die nicht unbedingt gleichzeitig Mitglied im sozialistischen Studentenbund, ja theoretisch nicht einmal Studierende sein mussten.
Der Mitgliederbestand des Studentenbundes änderte sich in den folgenden Semestern recht rasch. Allerdings erstaunt doch, dass gleich alle drei Mitglieder des Gründungsvorstandes schon zum nächsten Semester nicht mehr in der Liste des FSSB namentlich aufgeführt sind. Nur im Falle von Dr. Bernds ist der Grund eindeutig: Er hatte die Universität Münster zum Wintersemester 1929/30 verlassen, weil er sein theologisches Zweitstudium in Wuppertal-Elberfeld fortsetzen wollte.
Als „spiritus rector“ galt den Behörden, die den FSSB misstrauisch beäugten, dessen Schriftführer Rudolf Dannenbaum. Er war mit 25 Jahren ebenfalls deutlich älter als Ludwig Bitter. Der Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns aus Rheda stand als eingeschriebenes KPD-Mitglied und Propagandist der Partei im Fokus der geheimpolizeilichen Überwachung des FSSB.
Während er aber offiziell schon nicht mehr Mitglied des FSSB war, wovon die politische Polizei anscheinend noch ausging, soll er im Auftrag der KPD ausgedehnte Reisen innerhalb Deutschlands, durch Frankreich und Italien unternommen haben. Man unterstellte, ihm internationale Verbindungen bis nach Paris und Rom geknüpft zu haben.91
Grabmal von Rudolf Dannenbaum in Rheda
Quelle: Stadtarchiv Rheda-Wiedenbrück
Rudolf Dannenbaum verstarb jedoch schon am 8. Juni 1930 im Krankenhaus seiner Heimatstadt Rheda.92
Was Ludwig Bitter betraf, so hatte er zwar seinen Studienort nicht gewechselt oder verlassen, doch ebenfalls früh, vermutlich vor Jahresende 1929, dem FSSB den Rücken gekehrt.93 Dem widerspricht allerdings ein mit drei Jahren Abstand verfasster Brief von Ludwig an seinen Bruder Hubert.94 Demnach fand sein Austritt aus dem „Studentenbund“ vor drei Jahren, also eigentlich erst im Juli/August 1930 statt. Allerdings könnte Bitter hier auch einen ominösen KPD-nahen „Revolutionären Studentenbund“ gemeint haben, für den er kurzfristig mit Friedrich Fütterer tätig geworden war.
Nimmt man einen womöglich nie abgesandten Brief an einen ungenannten Freund – in Frage käme vor allem Bendiek – als Anhaltspunkt, so scheint Bitter den FSSB durchaus als Vereinigung kommunistisch gesinnter Studenten verstanden zu haben. Auch war er schon im Sommer 1929 regelmäßiger Teilnehmer an Veranstaltungen der KPD-Ortsgruppe Münster.95
Was führte einen idealistischen Philologiestudenten, Bürgersohn aus gutem, wenn auch wohl nicht begütertem Hause in die Reihen einer Partei, die in vielem, wenn nicht allem das Gegenteil seiner Herkunft und Existenz verkörperte?
Bestimmt nicht die Bildung, die er am Dionysianum erfahren hatte. Wenn die Schule eine Rolle gespielt haben sollte, so eher als Instanz, an der er sich abarbeiten musste.96
Die soziale Ungerechtigkeit dürfte Bitter früh mit Blick gerade auf die harte Arbeit der Ibbenbürener Bergleute erfahren haben. Noch 1934 notierte er: „Vieles ist in mir gestorben, aber eines nicht, mir selbst zum Staunen. Immer noch pocht der Vorwurf gegen die Rippen: 'Darfst du sitzen und lesen, lesen, meinetwegen auch Sprachen erlernen, während sie da unten in den Schächten sich abschinden? Ihre Arbeit ist auf jeden Fall „etwas“ wert, aber deine?'“97 Eigene Erfahrungen mit körperlicher Arbeit sammelte er bei Hilfsarbeiten und als Werkstudent.98
Anders als viele Studentinnen und Studenten der Sechziger- und Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts trieben ihn jedoch nicht Ablehnung oder Abgrenzung vom bürgerlichen Elternhaus in die Arme einer linksextremen Gruppierung. Er suchte immer wieder den Anschluss an seine Familie: die Geschwister, den Vater, vor allem jedoch die Mutter. Bitter hätte ihnen gerne den Kummer und die Sorgen erspart, die ihnen sein auf Dauer nicht zu verbergender Einsatz für die KPD einbrachte. Aber gleichzeitig trennte er persönliche politische Überzeugungen und Familie voneinander.
Er hielt zeitlebens politisch-moralisch fest an dem, was er einmal emotional wie rational als richtig erkannt zu haben glaubte. Insofern ließ er sich, selbst wenn es ihn schmerzte und marterte, von Einreden aus dem Kreis der Familie nicht beirren. Bei Bitter scheinen christlicher Glaube und praktische Politik ihre Kraft aus derselben Wurzel zu ziehen - einem scharf ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, kombiniert mit hoher Emotionalität seiner Person. Innere Ruhe fand er über lange Jahre nicht.
Die Ortsgruppen der KPD in Ibbenbüren wie in Münster standen in dem zweifelhaften Ruf, eher den Rand der Gesellschaft zu organisieren99 als die Arbeiterschaft, die in Münster allemal nicht so stark vertreten war.100
Jedoch waren die Führungspersönlichkeiten in beiden Städten zumeist Handwerker. In Münster war der Kopf der KPD „lange Jahre der Schneider Albrecht, der als Person auch bei den Bürgerlichen [im Stadtrat] gewisses Ansehen genoß.“101 Die Münsteraner KPD verfügte nur über eine einzige Betriebszelle – mit neun Eisenbahnern. Am Ende der Weimarer Republik überwogen die Arbeitslosen unter der Mitgliedschaft.102
Die wenigen Akademiker waren die Ringeltauben unter den Kommunisten. Sie kamen praktisch bei der Redigierung von Texten und der Mitgliederschulung zum Einsatz. 103 Nach internen Unterlagen konnte Münsters KPD bei Kundgebungen zu besonderen Anlässen schon einmal 1000 oder mehr Teilnehmer anlocken. Bei den sich meist anschließenden Demonstrationen marschierten ca. zwei Drittel der Kundgebungsteilnehmer mit.104 Im Januar 1933 zählte die Partei 86 Mitglieder, darunter nur fünf Frauen.105
Die KPD war also durchaus öffentlich wahrnehmbar. Dass ihr in Münster jemals ein eigener Studentenverband angegliedert