Markus Litz

Hegels Gespenst


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hundert Jahre nach jenen Ereignissen sei sein Name noch immer bekannt, betonte der alte Buttmann, welcher gerade noch darüber gejammert hatte, daß die von ihm gegründete Gesellschaft der herodotliebenden Freunde erst kürzlich wegen Mangel an Nachwuchs eingegangen war. Irgendjemand lachte kurz und hämisch, was Buttmann ziemlich erboste. Der Faltenwurf seiner Stirn: ein Aufruhr um nichts.

      Hegel sah sich zum Aufbruch genötigt. Es war schon herbstlich an diesem achtzehnten September 1830. Auch schien es dem Philosophen sicherer, nicht allzu spät zu Hause anzukommen. Am Tage zuvor hatte es nämlich eine Revolte von Schneidergesellen gegeben, die wegen der ihrer Ansicht nach unzumutbaren Arbeitsbedingungen auf die Straße gegangen waren. Der Aufruhr war jedoch vom herbeigerufenen Militär rasch niedergeschlagen worden. Dragoner und Ulanen ritten an jenem Abend mit gezogenem Säbel durch die Straßen, und lösten so einen Menschenauflauf am Schloßplatz auf. Es soll wohl auch Verletzte und zahlreiche Verhaftungen gegeben haben.

      Unerfreuliche Zeiten, meinten die besorgten Mitglieder der Gesetzlosen Gesellschaft. Es gilt, rasch eine Kutsche zu finden, die einen sicher nach Hause bringt, sagte sich Hegel. Vor dem Eingang des Englischen Hauses warteten zwei Kaleschen, eine davon mit heruntergeklapptem Verdeck. Kein Kutscher weit und breit, nur ein Straßenjunge in verdreckten Kleidern, der auf dem Kutschbock herumlümmelte. Der Junge gab etwas von sich, das wie eine Beschimpfung klang. Dazu schnitt er eine Grimasse, zog die Nase geräuschvoll hoch und spuckte seinen Rotz in hohem Bogen auf die Straße.

      Irgendetwas irritierte den Philosophen. Vielleicht der freche Gesichtsausdruck dieses Rotzlöffels, oder es mochte vielleicht der schneidende Wind sein, welcher plötzlich von Osten her wehte. Doch als ein schwarzgekleideter Kutscher scheinbar aus dem Nichts hervorkam, hatte er bereits vergessen, was ihn derart befremdet hatte.

       Die erste Nacht

      Es ist gegen neun Uhr abends, als Hegel sein Haus am Kupfergraben erreicht. Der Gedanke einer bevorstehenden Verwilderung der Zukunft läßt ihm während der holprigen Fahrt auf dem vom Regen geschwärzten Kopfsteinpflaster mehrmals den Atem stocken. Er memoriert Namen, mischt wirkliche und erfundene. Eine Prozession imaginärer Larven, die nicht aufzuhalten ist. Auf halbem Weg spürt er einen kleinen Schmerz am linken Auge; eine Nadel, die ins Tränenbein sticht. Er hört den Regen nun deutlich, doch diesmal beruhigt es ihn nicht. Auf dem schwarzen Pflaster glaubt er plötzlich etwas aufblitzen zu sehen, was eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Raubtierfell haben könnte. Sicher nur eine getigerte Laune der Einbildung.

      Alles ist mehr oder weniger in Auflösung begriffen, denkt er, während ihm die Haustür von einem weiblichen Schatten geöffnet wird. Die Aufwartefrau ist verschnupft und macht ein griesgrämiges Gesicht, als sie ihn erblickt. Die Kinder seien bereits zu Bett und seine Frau noch bei einer Freundin, die auch an einem Katarrh litte.

      Alle sind krank, denkt sich Hegel, während er den Stoß Zeitungen sortiert, der auf dem Tisch im Empfangszimmer liegt. Krank und verdorben. Lauter Zerfall, ungeordnete Lebensreste. Ein Berg von zusammenhanglosen Vorgängen und Tatsachen. Das ist der Kehrichthaufen der Geschichte. Man sollte sämtliche Zeitungen verbrennen, und mit der Asche andere Namen in den Staub schreiben.

      Unter dem Stapel der Neuigkeiten findet sich auch ein sorgfältig ausgeschnittener kleiner Artikel über seine Rede anläßlich des dreihundertsten Jahrestages der Augsburger Konfession. Gänzlich verdreht, meint er, während er den Artikel nochmals überfliegt, alles nur halbgares Zeug. Zerstörung der Familie durch den Zölibat, Vergötzung der Armut und Vernichtung des Fleißes durch Faulheit, Auflösung der Gewissenhaftigkeit durch blinden Gehorsam, all das seien die Krebsübel des Katholizismus, welche die protestantische Konfession hingegen längst hinter sich gelassen habe. Meinungen, halbgare Gedanken.

      Es kommt ihm mit einem Mal seltsam vor, was er da gesagt und geschrieben hat. Als hätte nicht er, sondern ein Anderer dieses geschrieben. Die Worte zerfallen einem im Mund, zerbröckeln im Nachdenken. Unaufhörlicher Gedankenabbau. Am besten geht man ins Bett und überläßt sich seinen Träumen. Dann kommt der Schlaf und mit ihm die heilsame Auflösung der Vernunft im Ungeformten. Keine unfruchtbaren Ideen mehr hegen.

      Er erinnert sich, was er gestern gelesen hat, eine kleine Frühschrift des alten Kant, die „Träume eines Geistersehers“. Ein Geist, der Vernunft besitzt, muß folglich auch real sein. Was dieser Gedanke für Folgen haben könnte. In unseren Tagträumen begegnen uns nämlich unzählige Wesen unerklärlicher Herkunft, und sie sprechen auch noch zu uns. Da diese Gestalten tatsächlich unseren Gedanken entsprungen sind, kann ihnen auch ein gewisses Maß an Vernünftigkeit nicht aberkannt werden. Aber das heillose Durcheinander ihrer Worte und Handlungen verursacht eine Verwirrung, die sich im Nachdenken niemals auflösen ließe. Wenn all das Kopfgewimmel wirklich wäre, dann würde jene andere Wirklichkeit die begreifbare Welt zweifellos zum Einsturz bringen.

      Er ruft die Aufwartefrau und läßt sich einen Cognac kommen. Vor dem Schlafengehen bewirkt dieses Getränk zuweilen eine vorübergehende Beruhigung seiner Gedanken, ein sanftes Hinübergleiten in einen anderen Zustand, der keinerlei Ähnlichkeit mit dem vorangehenden besitzt.

      Die Wachstränen am Kerzenleuchter, und eine Handbreit darüber das flackernde Licht. Nicht in die Flamme hineinschauen: es könnte das Ende bedeuten. Etwas schwirrt durch das Zimmer. Die Aufwartefrau muß das Fenster offen gelassen haben. Fliegen sind eine Plag. Ihre nervtötende Unruhe, die abscheuliche Vorliebe für Exkremente, das tausendfach einfältige Auge, welches nichts zu erkennen weiß. Ein Tier, das niemals hätte erschaffen werden sollen. Aber die Logik der Schöpfung unterliegt ganz anderen Gesetzen. Diese bleiben ihm unerfindlich, und vielleicht ist es auch gut so.

      Er läßt sich in dem kleinen Sessel nieder, der noch aus dem Besitz seiner Eltern stammt. An der Wand hängt ein Spiegel, in den er als Kind gern geschaut hat. Es ist ein gewölbter Rundspiegel in einer wurmstichigen Eichenholzfassung. All die Gestalten, welche er einfängt, erscheinen darin verkleinert und zugleich auch ein wenig verzerrt. Durch die künstliche Vergrößerung des Blickwinkels wird der Raum jedoch scheinbar weiter, und das schwerlich Einsehbare rückt plötzlich in das Gesichtsfeld.

      Die Kinderaugen erkannten, was er jetzt sieht: Ein schwarzer fliegenähnlicher Punkt am oberen Spiegelrand vergrößert sich langsam, verwandelt sich in ein Gesicht. Es ist ganz schwarz, nur das Weiße in den Augen tritt überdeutlich hervor. Eine Hand greift nach dem Gesicht, versucht es wegzuwischen. Es ist eine schneeweiße Frauenhand, die zu einem anderen Körper gehören mag. Und eine erträumte Stimme säuselt hinzu:

       Oh, Teufel! könnte

       Die Erde sich von Weibertränen schwängern

       Aus jedem Tropfen wüchs ein Krokodil –

      Mir aus den Augen fällt ein Splitter, der auf dem Boden zu einem Felsbrocken wird. Das ist die Last der ungehegten Wünsche. Jetzt scheint ihre Form deutlich umrissen: Es könnte eine versteinerte Schlange sein, die wie eine Felsnadel in den Himmel ragt. Irgendwo in der Ferne, in einem Reich, wo die Löwen umgehen, gibt es sie wirklich. Jebel Barkal: Der reine Berg. Aus ihm wird alles hervorgegangen sein. Der Himmel und auch die Erde, und ebenso das, was noch dazwischen liegt.

      Im Zwischenreich hat alles seine Stimme. Das Lamm spricht zum Löwen und übergibt ihm den Schlüssel der Nacht. Im Johannisstrauch lodert ein goldgelbes Meer, und seine Sonnen vergeben den dornigen Blicken. Die Hyäne schreit den kalkweißen Mond an, und denkt dabei vielleicht an den Hasen und dessen erloschenes Feuer. Über dem Sand und den Steinen schweben die Adler mit blutigen Schwingen. Es gibt nichts, was es nicht geben kann: Das ist der Trost jeglicher Einbildung.

      Das schwarze Gesicht hat noch keinen Namen, wohl aber eine Stimme. Und diese spricht in einer Sprache, die einem merkwürdig vorkommt: als hätte die Fremde ihren eigenen Atem verstoßen. Die Spiegelgestalt wird immer größer, je länger sie die Sätze zu einem Scheiterhaufen der Sprache aufschichtet. Flammende Sätze, die in dieser Glut aufwirbeln. Die Gestalt reicht schließlich über den Spiegel hinaus. Dann ist sie ganz nah und steht vor dem Träumenden. Keine Macht der Stille vermag sie jetzt aufzuhalten.

      Und die Sprache spricht. Im Laufe der hingemurmelten Erzählung wird jenes fremde Wortreich deutlicher, sogar verständlich, und mündet schließlich in die folgende